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Leben auf Bewährung

Ralf Schröder und die Leidenschaft für die »andere« sowjetische Literatur

  • Klaus Bellin
  • Lesedauer: 6 Min.

Er war zweiundsiebzig, als er am 7. Juli 2000 die ersten Sätze eines Buches schrieb, das Rechenschaft über sein Leben geben sollte. Ob es jemals fertig werden würde, wusste er nicht. Er rechnete mit zehn Jahren, und er ahnte wohl, dass es eine lange, vielleicht zu lange Zeit sein würde für einen, der 1994 mit knapper Not einen Herzinfarkt überlebt hatte. Heißen sollte es, ungewöhnlich genug: »Mein Roman mit der russischen und sowjetischen Literatur«. Er hatte feste Vorstellungen von seinem Buch, und er beeilte sich auch beim Schreiben. Aber er kam nicht weit. Er starb am 15. April 2001.

Die Kapitel, die er schaffte, hat Michael Leetz, sein Sohn, mit den hinterlassenen Tagebuchaufzeichnungen und Tonbanddiktaten, penibel erläutert, in einem stattlichen Sechshundert-Seiten-Band mit dem Titel »Unaufhörlicher Anfang« publiziert. Den fragmentarischen Charakter des Buches wird man beim Lesen schnell vergessen.

Er hieß Ralf Schröder und war einer der ungewöhnlichsten Köpfe, die einem in der DDR begegneten. Er war Slawist und kümmerte sich um sowjetische Literatur. Er fuhr jeden Tag in die Berliner Glinkastraße, setzte sich oben, im fünften Stock, in sein mit Büchern vollgestopftes Büro, las, redigierte, konferierte, schrieb Gutachten und Nachworte, stritt, hatte Freude, hatte Ärger, litt unter Besserwissern, Dogmatikern und Zensoren und konnte sich Besseres als seine Arbeit nicht vorstellen. Er war Lektor, Lektor im Verlag Volk und Welt. Das war damals ein Name, den man mit Respekt nannte, und Ralf Schröder war einer, der zur Reputation des Hauses unendlich viel beigetragen hat.

Eines Tages, mitten in den sechziger Jahren, war er da, ein strahlender, agiler, quirliger Mann, einer, der glühte, wenn er von neuen Romanen, von Autoren, von Vorhaben sprach. Seine Geschichte kannten wahrscheinlich nur wenige. Er selber berührte sie nie. Auch in seinem Lebensbericht hat er sich die Einzelheiten versagt. Nur in einer kurzen Szene, 1981 auf Tonband gesprochen und jetzt in sein Buch eingefügt, ist der Moment seiner Verhaftung festgehalten. Er ist, nicht ahnend, dass er in eine Falle gelockt wird, auf dem Weg nach Schmilka, als ein Auto mit aufgeblendeten Scheinwerfern entgegenkommt und den Wagen, in dem er sitzt, zum Halten zwingt. Die Tür wird aufgerissen, man legt ihm Handschellen an, schlägt ihm die Zigarette aus dem Mund, und Schaftstiefel treten sorgfältig alle Funken aus (noch später, berichtet sein Sohn, wird er jedes Mal, wenn ein Auto neben ihm anhält, erschrecken).

Damals, am 7. September 1956, begann seine dunkelste Zeit, das Martyrium. Er hatte an der Leipziger Universität russische und sowjetische Literatur unterrichtet und nach dem XX. Parteitag der KPdSU aufs »Tauwetter«, die Entstalinisierung auch der DDR, gebaut und wurde nun, wie Wolfgang Harich, im Dezember 1958 als Rädelsführer einer »partei- und staatsfeindlichen Gruppe« zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt. Acht Jahre davon verbrachte er in einer Einzelzelle in Bautzen, dann kam er im Zuge einer Amnestie frei, jedoch »auf Bewährung« nur, und diese »Bewährung«, ein erstklassiges Druck- und Erpressungsmittel der Staatssicherheit, endete erst Anfang der achtziger Jahre.

Ralf Schröder hätte in den Westen gehen, dort als prominentes Ulbricht-Opfer Karriere machen und einen Haufen Geld verdienen können. Er dachte nicht daran. Und hatte, weil ihm die Türen zur Universität versperrt wurden, Glück: Leonhard Kossuth, der sich um die Bedenken des Kaderchefs nicht scherte, holte ihn zu »Volk und Welt«. Besseres konnte ihm nicht passieren. Der Verlag wurde seine Heimat, der Ort mit der fantastischen, konkurrenzlosen Wirkungsmöglichkeit. Hier, nur hier ließ sich für die Verbreitung russischer und sowjetischer Literatur, der »anderen«, der verdächtigen und unerwünschten, am meisten tun. Und er nutzte die Chance. Ein halbes Jahrhundert lang war er der Sprecher dieser Literatur, der Bücher Bulgakows, Platonows, Ehrenburgs, Tynjanows, Aitmatows, Granins, Trifonows, Tendrjakows, Okudshawas. Er hat sie aufgespürt, durchgeboxt und sich dabei manche Beule geholt, hat sie mit Nachworten versehen und auf Lesereisen für sie geworben. Nichts war ihm wichtiger als das. »Die Schriftsteller und Werke meiner Literaturlandschaft«, schreibt er, »standen für mich immer im Vordergrund. Meine eigenen literaturwissenschaftlichen Interessen waren Teil der Mittlerfunktion und dieser untergeordnet.«

Er war ein Enthusiast und ein großer Arbeiter, sagt Fritz Mierau, der Mitstreiter, wie Ralf Schröder einer, der vehement für eine Literatur kämpfte, die den ideologiefesten Pächtern der Wahrheit nicht in ihr Sozialismus-Bild passte. Mierau edierte, unter Widerständen und mit Schröders Hilfe, die großen, aber unterschlagenen Autoren Babel und Block, Tretjakow, Jessenin, Mandelstam oder Zwetajewa. Ralf Schröder schenkte uns, kaum dass er 1966 ins Lektorat eingezogen war, Bulgakows sensationellen Roman »Der Meister und Margarita«, den er den Lesern mit einem weit ausholenden Aufsatz nahebrachte, und danach die lange, eindrucksvolle Reihe der Prosawerke, die die Perestroika vorweggenommen haben.

Mit Bulgakow hat einmal, 1968, alles angefangen, und mit ihm endete es auch. Die umfangreiche, wunderbare Werkausgabe in 13 Bänden, erschienen zwischen 1992 und 1996, war seine letzte editorische Leistung (und auch die letzte bedeutende Publikation des im April 2001, in seinem Sterbemonat, liquidierten Verlags). Sie fiel, nebenbei, dann für eine mickrige Summe an Luchterhand, der sie in seiner Taschenbuchreihe mit großem Gewinn weiterverkaufte. »Meister und Margarita« erschien dort an die hunderttausend Mal, immer mit den »Literaturgeschichtlichen Anmerkungen« von Ralf Schröder, der als Herausgeber der Edition allerdings nicht mehr genannt wurde. In der 14. Auflage des Romans, ausgeliefert im April dieses Jahres, hat man auch auf das Nachwort verzichtet.

Jetzt, im »Unaufhörlichen Anfang«, verlässt der Mann, der sich selber nie so wichtig nahm (und gestern fünfundachtzig Jahre alt geworden wäre), seinen stillen Posten und erzählt seine Geschichte. Erzählt von Kindheit und Krieg, vom Slawistik-Studium, von naiver Stalin-Bewunderung und den Hoffnungen, die dem Denkmalsturz Stalins folgten, von nüchterner Verlagsarbeit, Büchern und Autorenbegegnungen, von altem und neuem Denken und den Umbrüchen, die der Herbst 1989 mit sich brachte. Zuletzt, in einer rührenden Erinnerung von Olga Trifonowa, sieht man ihn an einem Augusttag 1984 auf dem Flughafen in Scheremetjewo. Er war zur Beisetzung seines Freundes Juri Trifonow in Moskau und steht nun verheult neben der Witwe, im Gepäck die Konterbande, das Manuskript des Romans »Zeit und Ort« ohne die Streichungen der Zensur. Eine waghalsige, riskante Aktion. Aber man ließ ihn, so bemitleidenswert er aussah, ohne Umstände ziehen. Später, sagt Olga Trifonowa, wäre die Sache beinahe doch noch aufgeflogen. Eine amerikanische Slawistin kam dahinter, dass die deutsche Ausgabe im Umfang die Originalausgabe übertraf. Sie schrieb es verwundert dem Verlagschef Jürgen Gruner. Der, so lange ahnungslos, forderte von seinem Mitarbeiter Aufklärung. Weitergesagt hat er die Sache nicht.

Ralf Schröder: Unaufhörlicher Anfang. Vorboten eines Romans, hg. von Michael Leetz. Edition Schwarzdruck, 624 S., brosch., 35 €.

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