nd-aktuell.de / 10.11.2012 / Reise / Seite 30

Grenzpassagen

Unterwegs auf dem Walter-Benjamin-Weg, der von Banyuls-sur-Mer in Frankreich nach Portbou in Spanien führt

Regina Stötzel

Nicht jede Grenzerfahrung erweitert sofort den Horizont. Über dem Coll de Rumpisó hängt dichter Nebel, die Sichtweite beträgt keine 50 Meter. Die Wegmarkierungen, die an dieser Stelle von Gelb zu Bordeauxrot wechseln, lassen die Grenze zwischen Frankreich und Spanien erahnen. Vor allem aber eine Tafel, die außer einer kleinen Karte das Foto eines nachdenklichen Walter Benjamin zeigt sowie einen Auszug aus dem Buch seiner Fluchthelferin Lisa Fittko. Diese beschreibt darin das vom Coll de Rumpisó in 540 Metern Höhe mit mehr Glück offenbar auf zwei Seiten sichtbare Meer, dunkelblau auf der einen, kristallklar und türkis auf der anderen, und die »herbstliche Landschaft mit unendlichen Farbschattierungen in Rot und Gelb«, die ihr im Jahr 1940 die Sprache verschlagen, aber auch eine existenzielle Gewissheit verschafft hatte: »Jetzt wusste ich, dass wir in Spanien waren und dass von hier aus der Weg direkt nach Portbou führte.«

Anders als die Bahnhöfe der Grenzorte an der Küste und die direkten Verbindungen zwischen ihnen, wurde die grüne Grenze im Gebirge zwischen Frankreich und Spanien im September 1940 nicht überwacht. Der in Berlin geborene jüdische Philosoph Walter Benjamin, der schon mehrere Jahre im Exil in Paris verbracht hatte, ging den Weg von Banyuls-sur-Mer nach Portbou zusammen mit Leidensgenossen und Helfern am 25. September 1940. Ausgestattet mit einem Visum für die USA, das ihm das Frankfurter Institut für Sozialforschung besorgt hatte, sowie Transitvisa für Spanien und Portugal soll er ansonsten lediglich eine dicke Aktentasche mit Manuskripten bei sich gehabt haben.

An dem Herbsttag im Jahr 2012 zeichnet sich die Côte Vermeille, auch unterhalb der Wolken, eher durch Grauschattierungen aus, ist aber dennoch wunderschön und eine perfekte Gegend für alle, die sich zwischen Urlaub am Meer und Urlaub in den Bergen nicht entscheiden können. Der alte Schmugglerpfad über den östlichen Ausläufer der Pyrenäen, jetzt Walter-Benjamin-Weg, ist einsam in der Nachsaison. In den Weinbergen von Banyuls, durch die der Weg ansteigt, sind ein paar Menschen bei der Traubenernte zu sehen, dann stundenlang niemand mehr. Die Wanderung ist im Prospekt der Touristeninformation als »schwierig« eingestuft und die Gehzeit mit sieben Stunden angegeben. Vermutlich will man Benjamin-Apologeten davon abschrecken, spontan in ihrer Lesesesselausstattung den Berg hinauf zu stapfen. Tatsächlich sind Wanderschuhe für den steinigen und stellenweise steilen Weg wärmstens zu empfehlen. Aber ohne schweres Gepäck ist er in viereinhalb Stunden gut zu schaffen.

Auf der spanischen Seite scheint das Dornengestrüpp am Wegesrand dichter zu sein und kratzt an den Beinen. Es geht steiler bergab als auf der französischen, recht schnell ist der Abstieg zu einer Schotterpiste geschafft - doch dann zieht es sich noch ordentlich, wie es so schön heißt, bis man zuerst eine imposante Industrieanlage und dann schließlich Portbou erreicht. Wer am Ortseingang den offiziellen Weg verfehlt, gerät in den beängstigend riesigen und düsteren Tunnel unter der Bahnhofsanlage, der einen aber, obwohl man es kurzzeitig kaum glauben kann, recht schnell in den kleinen, freundlichen Ort entlässt.

Welche Herausforderung die Strecke für den 48-jährigen herzkranken Walter Benjamin in Lebensgefahr bedeutete, kann man nur ahnen. Und dann der Schock, dass den Flüchtenden die Einreise nach Spanien verweigert wird, trotz aller Visa. Es ist die fehlende Ausreisegenehmigung der französischen Behörden, die ihnen zum Verhängnis wird, eine gerade erst erlassene Verordnung. Der Weg in die Freiheit für viele Juden und Nazigegner entpuppt sich für Walter Benjamin als Sackgasse. In der Nacht zum 27. September 1940 nimmt er sich in seinem Hotelzimmer mit einer Überdosis Morphium das Leben, um der Auslieferung an die Nazis zu entgehen.

Erst vor wenigen Jahren wurde Benjamins Fluchtweg nach historischen Dokumenten rekonstruiert und von der Strandpromenade in Banyuls-sur-Mer bis zum Friedhof in Portbou durchgängig als »Chemin Walter Benjamin« bzw. »Ruta Walter Benjamin« ausgezeichnet. Er ist Teil eines Netzes von »Wegen in die Freiheit«, die sich durch das Küstengebirge ziehen und erwandert werden können.

Auch Portbou mit seinen knapp 1300 Einwohnern ist bei bedecktem Himmel in der Nachsaison nicht gerade belebt. Der graue, vorwiegend steinige Strand dürfte dazu beigetragen haben, den Ort vom Massentourismus zu verschonen. Früher kamen noch mehr Touristen hier vorbei, nächtigten Horden von Interrailern in der nördlich des Zentrums gelegenen kleinen Bucht, weil sie auf dem Weg Richtung Portugal hier zwangsläufig den Zug wegen unterschiedlicher Spurbreiten in Frankreich und Spanien wechseln mussten. Seit mehr Züge umgespurt werden und eine neue Hochgeschwindigkeitsstrecke jenseits der Küste eröffnete, wirkt der Bahnhof völlig überdimensioniert und wie aus einer anderen Zeit.

Zeitlos schön dagegen ist der Friedhof von Portbou, oberhalb der Steilküste am südlichen Ortsende. Die Aussicht darauf, mit einem solchen Blick über Meer und Berge begraben zu sein, könnte glatt etwas Tröstliches haben. Die sterblichen Überreste von Walter Benjamin gingen hier in einem Massengrab verloren. Seit 1994 erinnert das von Dani Karavan geschaffene Denkmal »Passagen« an ihn. Es ist eines jener Kunstwerke, die auf den ersten Blick geradezu schlicht aussehen und dann eine unbeschreibliche Wirkung erzielen. Allein dafür lohnt sich der Weg nach Portbou. »Das ist kein Denkmal, das ist eine Hommage«, sagte Dani Karavan im Frühjahr in einem Interview. Und sie ist vollständig gelungen.

Auf dem Rückweg wird die spanisch-französische Grenze spürbar. Man kann nur ein Ticket für zwei Euro bis Cerbère lösen, den Ort zwischen Portbou und Banyuls. Dort heißt es umsteigen, und sogar die Pässe werden kontrolliert - vermutlich, um Flüchtlinge aus dem Süden an der Weiterreise zu hindern. Das Anschlussticket kostet noch einmal zwei Euro, und erst nach einer guten halben Stunde geht es weiter. Und das alles, obwohl die reine Fahrtzeit von Portbou nach Banyuls nur wenige Minuten beträgt.

  • Infos: Atout France - Französische Zentrale für Tourismus, Postfach 10 01 28, 60001 Frankfurt am Main, E-Mail: info.de@rendezvousenfrance.com[1], Fax: (069) 74 55 56, www.franceguide.com
  • Anreise nach Banyuls-sur-Mer oder Portbou am besten mit dem Zug aus Richtung Montpellier oder Barcelona. Zwischen den beiden Orten verkehren mehrmals täglich Züge, Richtung Banyuls mit Umsteigen in Cerbère.
  • Touristeninformation in Banyuls-sur-Mer: Avenue République (Strandpromenade), Tel. +33(0) 468 883 158, E-Mail: ot.banyuls@banyuls-sur-mer.com[2]
  • Touristeninformation in Portbou: Passeig Luís Companys s/n,+34(0) 972 125 161 turisme.portbou@ddgi.cat[3], walterbenjaminportbou.cat
  • Zu empfehlen ist auch ein Besuch im Exilmuseum (Museu Memorial de l‘Exili) in La Jonquera, das an der Autostrecke Perpignan-Figueres liegt (www.museuexili.cat).

Links:

  1. info.de@rendezvousenfrance.com
  2. ot.banyuls@banyuls-sur-mer.com
  3. turisme.portbou@ddgi.cat