Eine Gedenkstätte im Alleingang

Im Mansfelder Land wird seit kurzem an ein fast vergessenes KZ erinnert

  • Hendrik Lasch, Wansleben
  • Lesedauer: 6 Min.
In Wansleben am See bestand ab 1944 ein Außenlager des KZ Buchenwald. Das dunkle Kapitel war fast vergessen, bis Andreas Tautrim zufällig darauf stieß - und quasi im Alleingang eine Gedenkstätte aufbaute.
Das Schild am Straßenrand ist nagelneu. »KZ-Gedenkstätte Wansleben« ist zu lesen, für Anmeldungen ist eine Telefonnummer angegeben. Wer abbiegt, findet sich zwischen ein paar geduckten Wohnhäusern sowie Gehegen, in denen Ziegen, Wollschweine und Trakenerhengste stehen, wieder. Auf eine Gedenkstätte für ein Konzentrationslager deutet nichts hin, genau so wenig freilich wie auf einen großen See und ein Bergwerk. Dass sich See, Grube und Lager an diesem Ort befanden, erfahren Gäste eher zufällig. Ebenso zufällig, wie Andreas Tautrim zum Chef einer kleinen Gedenkstätte wurde.

Tautrim, einen freundlichen 48-Jährigen, der im Hauptberuf eine Baufirma führt, trifft man in einem Backsteinbau mit hohen, in Stahl gefassten Fenstern. Das hallenartige Gebäude war das Maschinenhaus von Schacht Georgi. Eine Winde ließ von hier aus über einen benachbarten, heute abgerissenen Förderturm Körbe mit Bergleuten in 380 Meter Tiefe. Dort unten lagerte Kalisalz, das so wertvoll war, dass für seinen Abbau der Süße See leergepumpt wurde, ein großes Gewässer, an das noch der Namenszusatz »Wansleben am See« erinnert. Die Pumpen laufen bis heute und befördern Grundwasser in lange Gräben. Einer davon verläuft direkt vor Tautrims Haus.

Andreas Tautrim kam in die Gegend, weil er gern jagt; ein Revier in der Senke, in der früher der See lag, wurde von ihm bewirtschaftet. Vor sechs Jahren erwarb er eine alte Lagerhalle samt umliegender Wiesen am ehemaligen Seeufer. An der Grundstücksgrenze liegt eine Halde aus Stein und Abbruchmaterial, unter der sich, wie ihm bald ein Anwohner offenbarte, ein Luftschutzbunker aus der NS-Zeit verbirgt. Der Nachbar erzählte ihm auch, dass die Ruinen auf dem angrenzenden Grundstück zum einstigen Schacht Georgi gehören. Dessen Geschichte endete freilich nicht mit der Stilllegung im Jahr 1926. Gut 17 Jahre später brachten die Nazis zunächst Kulturschätze in dessen Stollen: Historische Bücher und wertvolle Gemälde aus der »Leopoldina«, der Akademie für Naturwissenschaften im 18 Kilometer entfernten Halle. Rund 15 Lkw-Ladungen voller Kulturschätze verschwanden im Salzstock.

Im Jahr 1944 brauchten die NS-Machthaber das Bergwerk dann für einen anderen Zweck. Sie gingen zunehmend dazu über, für die Rüstung wichtige Produktionsanlagen unter die Erde zu verlegen, um sie vor alliierten Bombenangriffen zu schützen. Auch im Schacht Georgi wurde eine solche Waffenschmiede eingerichtet - von einem Kommando mit Häftlingen aus dem KZ Buchenwald. Sie hatten Produktionshallen in das Salz zu treiben. »Für jeden dieser Räume«, schreibt der französische Kriegsgefangene Geoffrouy de Clercq in seinen Erinnerungen, »starb ein Dutzend der Insassen.« Aus Buchenwald kamen später auch die Arbeiter: mindestens 2024 Häftlinge, die in der finsteren und heißen Grube Flugzeugmotoren oder Teile der V2-Raketen herstellen mussten. Die Produktion lief bis zum April 1945. Weil dann die US-Armee anrückte, wurde das Lager evakuiert; die Insassen wurden auf einen Todesmarsch getrieben, den viele nicht überlebten.

Andreas Tautrim hörte diese Geschichte wenige Tage, bevor die Reste der Bergwerksgebäude abgerissen werden sollten: »Die Bagger standen schon bereit.« Der Eigentümer, ein Betrieb des Landes Sachsen-Anhalt, wollte von den Plänen auch trotz seiner Intervention nicht abrücken. Tautrim wiederum war fest entschlossen, die Überreste zu erhalten: »Vielleicht hätte man uns sonst später gefragt, warum wir nichts unternommen haben.« Er schickte an einem Freitag ein Fax an den damaligen Ministerpräsidenten Wolfgang Böhmer (CDU). Am Montag darauf war ein Baustopp verhängt. Später kaufte Tautrim das geschichtsträchtige Areal für einen Euro.

Die eigentliche, mühselige und kostspielige Arbeit begann damit erst. Die Maschinenhalle sollte erhalten werden: ein Bau, von dem faktisch nur die Außenmauern noch standen. Zudem versuchten Tautrim und eine Handvoll Mitstreiter, die er in Nachbarorten gewann, Näheres über das KZ Wansleben in Erfahrung zu bringen. Das stellte sich als unerwartet schwierig heraus. Zwar findet sich der Ort in der Liste der über 40 Außenlager von Buchenwald. Doch Forschungsarbeiten existieren nicht. Die umfangreichste Quelle sind rund 4000 Seiten Stasi-Unterlagen. Ein Großteil des dort enthaltenen Materials stammt offenbar aus der Arbeit einer Arbeitsgemeinschaft an der Wanslebener Oberschule »Hans Beimler«. Die Schüler hatten in den 70er Jahren auch Überlebende befragt. Das Ministerium für Staatssicherheit, so wird vermutet, interessierte sich

dafür wohl wegen der Schätze aus der »Leopoldina«. 1962 hatte sogar eine Expedition in den Schacht stattgefunden. Seither aber war dieser versiegelt. Trotz der Forschungen der Schüler geriet die Geschichte zunehmend in Vergessenheit.

Ein wenig Licht ins Dunkel hat der Verein, den Tautrim ins Leben rief, seither jedoch bringen können. Die Ergebnisse sind im ehemaligen Maschinenhaus auf vier Wandtafeln nachzulesen und in etlichen Vitrinen zu besichtigen. In einer steht auch ein Buch, das Tautrim vom einzigen ihm bislang bekannten Überlebenden geschenkt bekam: einem über 90-jährigen Franzosen, der Wansleben vor einiger Zeit besuchte und seine Erinnerungen filmen ließ; der Streifen soll künftig einmal in der Gedenkstätte zu sehen sein. In Frankreich besteht bis heute ein Verein von Überlebenden, die »Amicale de Wansleben«. Überhaupt scheint das Wanslebener KZ-Kapitel im Nachbarland lebendiger zu sein als in Deutschland: Dem kleinen Ort im Mansfelder Land ist ein eigener Eintrag

auf der französischen Wikipedia-Seite gewidmet; das Kapitel zum KZ ist deutlich ausführlicher als bei Wikipedia Deutschland.

Andreas Tautrim kann sich vorstellen, die Kontakte nach Frankreich enger zu knüpfen. Zuvor jedoch gibt es auch in Wansleben noch viel zu tun. In die Gedenkstätte, die vor einigen Wochen offiziell eröffnet wurde, sollen Schulklassen und Besucher eingeladen werden; es soll stärker als bisher Bildungsangebote für Schulen geben; eine künstlerische

Ausstellung ist geplant; auch von Filmabenden träumt Tautrim. All das ohne offiziellen Auftrag und ohne wesentliche Hilfe von außen: Bisher gab es für den Verein nur ein paar Fördermittel vom Landkreis und der Lottogesellschaft Sachsen-Anhalt sowie Spenden von LINKE-Politikern. Geld für eine feste Stelle hat der Verein bisher nicht auftreiben können. »Die wäre nötig, um jederzeit Besucher empfangen und ihnen die Geschichte erklären zu können«, sagt Tautrim.

Bisher gelangt, wer die Nummer der Gedenkstätte anruft, zu Andreas Tautrim, der dann von einer Baustelle oder von der Pferdekoppel herbeikommt. Besucher, die sich die Geschichte der Gedenkstätte erzählen lassen, sind meistens beeindruckt vom Engagement des Mannes: »Viele halten das für außergewöhnlich«, sagt Tautrim. Er zuckt etwas verständnislos die Schultern. Man müsse, sagt er, »die Erinnerung doch erhalten«. Mag sein. Dass daraus aber im Alleingang eine Gedenkstätte wird - das ist dann doch etwas ungewöhnlich.

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