Hinter den Kulissen von Gaza

Palästinensisches Leben zwischen Armut und Reichtum, Märtyrertum und religiöser Gängelei

  • Oliver Eberhardt, Jerusalem
  • Lesedauer: 7 Min.
Palästinenser am Donnerstagmorgen vor einem Gebäude in Gaza-Stadt, das gerade von einer israelischen Luft-Boden-Rakete zerstört worden ist. Insgesamt flog die israelische Luftwaffe während der vorausgegangenen 24 Stunden 60 Angriffe.

Im Gazastreifen gibt es seit Mittwochabend erneut kriegerische Auseinandersetzungen zwischen Israels Militär und militanten palästinensischen Gruppen. Doch der ständige Konflikt, die fortdauernder Blockade sind nicht das Einzige, was das Leben in dem dicht bevölkerten Landstrich unerträglich macht: Radikale Islamisten versuchen zunehmend, den Menschen ihren Lebensstil vorzuschreiben.

Israels Militär hat den Oberbefehlshaber des militärischen Flügels der Hamas im Gazastreifen getötet. Damit wolle man die »terroristischen Strukturen« zerstören, so die Begründung. Doch ein genauer Blick zeigt: Militärisch lässt sich dieser Konflikt nicht lösen. Denn er wird längst von mehr als nur einem Mann getragen...

Es riecht nach kaltem Schweiß. Süßlich-herbem Eau de Toilette, und zwar ganz viel, viel zu viel davon. Es ist morgens, kurz vor Mittag, und alle Geräte in diesem engen, schlecht durchlüfteten Raum, der so etwas wie ein Fitnessstudio sein soll, sind besetzt: Laut stöhnend stemmen junge Männer Gewichte, und bei manchen von ihnen verrät die Akne, dass ihre Muskeln wahrscheinlich nicht nur natürlichen Ursprungs sind. An den Wänden hängen Bilder von Jugendlichen, viele von ihnen mit der Waffe in der Hand; Märtyrerposter, wie man sie in Gaza an jeder Ecke hängen sieht. »Wir bilden hier eine starke Generation aus; eine Generation, die es mit Israel aufnehmen kann«, sagt der Mann im dunklen Anzug.

Hamas ist ihnen nicht mehr radikal genug

Eine Generation, für die es nur noch zwei Dinge im Leben gibt: den Islam. Und Israel. Denn viel mehr als das ist im Gazastreifen nicht geblieben: Die Arbeitslosigkeit ist hoch. Die Hoffnung auf ein besseres Leben niedrig. Für junge Männer wie diese spielt sich der Alltag zwischen Fitness-Studio, Teehaus und Moschee ab.

Draußen kracht es laut; in die Muckibude kommt Bewegung. Die jungen Männer stürmen auf die Straße; in der Ferne rattert an diesem Tag Ende Oktober ein israelischer Helikopter am Himmel. Irgendwo steigt Rauch in den Himmel. Es ist einer der unzählbaren Militärschläge. »Unsere Rache wird furchtbar sein«, ruft der Mann im Anzug. Die Jugendlichen jubeln, die Hände kämpferisch gen Himmel gestreckt. Tage später werden palästinensische Kampfgruppen Dutzende Raketen in Richtung Israel abschießen; welche Gruppen genau, dass können weder Israelis noch Palästinenser sagen. Dafür gibt es mittlerweile zu viele davon, die zudem auch noch kommen und gehen.

Wer angefangen hat, wohin es führen soll - auch das kann niemand mehr genau sagen. Man wolle abschrecken, begründet Israels Militär routinemäßig seine Militärschläge. Man wolle die »terroristische Infrastruktur« schwächen, begründete Israels Verteidigungsminister Ehud Barak die gezielte Tötung von Ahmed Jabari, dem Oberbefehlshaber des militärischen Flügels der Hamas im Gazastreifen am Mittwoch.

Aber ein Blick hinter die Kulissen, dort, wo sich das komplizierte Wechselspiel zwischen der Hamas, den Kampfgruppen, der Bevölkerung und der internationalen Gemeinschaft vollzieht, lässt schnell erkennen, dass es keine einfachen Antworten gibt. Keine einfachen Lösungen. Und schon gar keine Militärischen. Es ist kein Mann, der auf dieser Seite des Grenzzauns den Konflikt mit Israel am Laufen hält. Es sind Jugendliche wie diese: Verarmt durch Israel, in karikativen und sportlichen Einrichtungen umsorgt durch die Hamas, radikalisieren sie sich zunehmend. Bis ihnen die Hamas nicht mehr radikal genug ist.

Denn auch dies wird im Gazastreifen schnell erkennbar: Das Verhältnis der Bevölkerung, vor allem der Jüngeren, zur Hamas ist gespalten, auch wenn beide in Zeiten wie diesen aus der Ferne als eine Einheit erscheinen.

Und der Mann im Anzug ist einer von jenen, die dafür sorgen sollen, dass das so bleibt. Er nennt sich Saed, kein Nachname, und hat sich bereits am Grenzübergang an die Journalisten dran gehängt; es würde doch Sinn machen, jemanden dabeizuhaben, der Fragen beantworten kann. Und eines kann man sagen: Saed, der sagt, er arbeite für das Pressebüro der Hamas-Regierung, hat auf alles eine Antwort. Während des gesamten Aufenthaltes versucht er, die Deutungshoheit über schlichtweg alles zu übernehmen. Er beendet die Sätze von Gesprächspartnern, wenn sie drauf und dran sind, etwas möglicherweise Unangenehmes zu sagen; er lässt in positivem Lichte glänzen, was negative Fragen aufwirft.

Warum beispielsweise im Villenviertel von Gaza - eigentlich ein Überbleibsel aus der Anfangszeit der Palästinensischen Autonomiebehörde, als noch kein Zaun, kein Grenzübergang Gaza von Israel trennten, und die Menschen Geld verdienen konnten, wenn sie es schlau anstellten - warum also in diesem Villenviertel gebaut wird, und Sprinkleranlagen den Rasen wässern. Wo doch heute, nach Jahren der Blockade durch Israel und Ägypten, Baumaterialien fehlen und Wasser, unter anderem.

»Gazas erfolgreiche Geschäftsleute«

»Es sind erfolgreiche Geschäftsleute, die hier wohnen,« sagt Saed, während er in dieser Straße steht, die aussieht, als sei sie aus Tel Aviv hierher verpflanzt worden, in dieses Meer aus grauen mehrstöckigen Häusern an staubigen, oft ungepflasterten Straßen, an denen die Spuren der vielen israelischen Militärschläge stets allgegenwärtig sind. »Für die Neubauten wird altes Baumaterial und für den Rasen aufgesammeltes Wasser aus dem Haus wieder verwendet«, behauptet der Hamas-Funktionär. Ein paar Meter weiter lässt sich deutlich erkennen, wie der Wasserschlauch eines Sprinklers in einem Wasserhahn verschwindet.

»Sie können ja bei uns eintreten«

Doch am liebsten ist es Saed, seine Begleiter gleich an die Orte zu führen, die sie sehen sollen - so wie dieses Fitnesszentrum, das von der Hamas betrieben wird und zu dem nur eingeschriebene Mitglieder der Hamas Zutritt haben, wie der Leiter des Studios sagt. Woraufhin Saed ergänzt, dass natürlich auch alle anderen Jugendlichen hierher kommen können, sie müssten nur umgerechnet rund 35 Euro im Monat bezahlen - das Drittel eines durchschnittlichen Monatslohns. Wobei Saed auch darauf eine Antwort hat: Sie könnten ja in die Hamas eintreten.

Und viele tun das. »Das macht das Leben in Gaza wenigstens ein bisschen leichter: Man kommt eher an einen Job und einfacher ins Fitnessstudio, wenn man keinen findet«, sagt Mustafa Erekat.

Er ist Psychologe und Soziologe und hat in Gaza gearbeitet, bis er im Oktober nach Ägypten ausgereist ist: »Ich musste weg,« sagt er, »das Leben zu Hause macht einen fertig.«

Denn der Normalbürger, der nicht im Villenviertel von Gaza lebt, muss kämpfen: Durch die israelische Blockade fehlt es an allem; Öl und Gas zum Kochen, an Benzin, aber auch an Lebensmitteln. Doch am Schlimmsten sei, dass die Regierung immer weiter in den persönlichen Lebensbereich eindringe.

Das »System Saed«, wie er es nennt, sei überall: Über ihre Kindergärten, Jugendzentren und Suppenküchen islamisiere, radikalisiere die Hamas die Jugend zunehmend und drangsaliere jene, die dabei nicht mitmachen wollen. »Ich habe sehr viele Jugendliche erlebt, die sich seit der Machtübernahme vom Heranwachsenden, der sich für alles mögliche interessiert, zum Menschen gewandelt haben, für den nur noch der Islam wichtig ist und der Kampf gegen das israelische Militär. Noch sehr viel öfter sind mir allerdings jene aufgefallen, die sich regelrecht beispielsweise in exzessiven Sport flüchten. Das ist ein Stück Freiheit.«

Und dennoch: Obwohl Leute wie Saed jeden Schritt, jedes Wort genau beobachten, scheint bei den Menschen immer wieder, sehr viel öfter als noch vor einigen Monaten, Unmut durch.

Es besteht kein Zweifel daran: Die Regierung der Hamas steht unter Druck. Weil sie sich gegen die Aussöhnung mit der Fatah sperrt, von der sich viele ältere Menschen hier eine Lockerung des restriktiven islamischen Lebenswandels erhoffen, den die damit aufwachsende Jugend fordert. Aber auch, weil sie kaum in der Lage ist zu liefern, was die Bevölkerung braucht.

Konflikt mit Israel befördert Einheitsgefühl

Auch Jahre nach ihrer Machtübernahme liegt die Arbeitslosigkeit bei über 60 Prozent, während kleine Splittergruppen wie der Islamische Dschihad, dessen Auslegung des Islam noch sehr viel restriktiver ist, als die der Hamas, eine verstärkte Islamisierung fordern - was auch das von Jahr zu Jahr rigorosere Vorgehen der Hamas gegen Dinge, »die gegen die Moralvorstellungen unserer Gesellschaft verstoßen« (Saed), erklärt.

Für eine gewisse Einheit sorgen vor allem die Auseinandersetzungen mit Israel: »Sie geben den Jugendlichen das Gefühl, dass sich etwas bewegt, auch wenn das nur eine Illusion ist«, sagt Psychologe Erekat.

Von der Angst, der Panik, die früher auf Militärschläge folgte, ist bei ihnen heute nichts mehr zu spüren. Was nicht verwunderlich sei, so Erekat: »Sie haben nichts mehr zu verlieren. Die hatten jahrelanges Training.«

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