Mythos, Identifikation, Aufklärung

Über Fallstricke linker Gedenkpolitik

  • Nicolas Šustr
  • Lesedauer: 3 Min.
Linke Gedenkveranstaltungen für Naziopfer füllen oft Leerstellen, müssen sich aber vor politischer Vereinnahmung des Opfers hüten.

»Man ist vom Verschweigen dahin gekommen zu sagen: Sorry, dass unsere Volksgenossen euch umbringen wollten.« So sarkastisch sieht Martin Peters von der North East Antifa Berlin die Entwicklung staatlichen Gedenkens für die Opfer der NS-Diktatur über die Jahrzehnte. Die Entschuldigung habe sich für den Staat als praktikable Lösung erwiesen, um Debatten zu beenden. Eine Taktik, die seiner Meinung nach auch beim Umgang mit aktuellen Opfern neonazistischer Gewalt droht. Peters gehört zu den Organisatoren der Demonstration zum Todestag von Dieter Eich, der im Jahr 2000 von Neonazis in Berlin-Buch ermordet wurde. Die Dieter-Eich-Demo ist neben dem weitaus bekannteren Gedenken an Silvio Meier die zweite jährliche Veranstaltung in Berlin, die an Opfer neonazistischer Gewalt erinnert.

Der Umgang mit dem Mord an Dieter Eich zeigt, dass Gedenken kein Selbstläufer ist. Nach jahrelanger Pause fand erst zum zehnten Todestag wieder eine Demo statt. »Dieter Eich war eben ein unsexy Opfer«, sagt Peters. Ein erwerbsloser Trinker aus einem Randgebiet Berlins ohne nennenswerte linke Strukturen habe ein ungleich schwerer zu weckendes Mobilisierungspotenzial als ein linker Hausbesetzer aus dem linken Kerngebiet Berlins.

»Kein Gedenken ohne die Hinterbliebenen«, ist Martin Peters' Maxime. Ein besonders abschreckendes Beispiel war aus Sicht von Aktivisten der staatliche Gedenkakt für die Opfer des Nationalsozialistischen Untergrunds. Die Angehörigen seien als letztes informiert, vor vollendete Tatsachen gestellt worden, so die Kritik. Sensibilität ist wichtig - auch wenn es um den Charakter der Veranstaltung geht. Ein Anliegen der Dieter-Eich-Initiative ist es, die tieferliegenden Gründe für die Mordfälle zu thematisieren. »Wir haben immer hervorgehoben, dass er wegen seiner Erwerbslosigkeit ermordet wurde«, sagt Peters. Dabei achteten sie jedoch darauf, die Person nicht zu vereinnahmen. Eich selber war nicht politisch, »wir haben deshalb nie eine antikapitalistische Demo daraus gemacht«.

Gegen die Art des Gedenkens an Silvio Meier gibt es genau deshalb Einwände. Kritiker werfen den Organisatoren vor, den einstigen Hausbesetzer zu einem deutschen Che Guevara zu überhöhen. Den Schuh wollen sich die Demoausrichter aber nicht anziehen. »Wir sagen immer, dass Meier einer von vielen war«, betont Lars Laumeyer von der Antifaschistischen Linken Berlin. »Das ist Identifikation, kein Mythos!«

Der Kreis, der die Erinnerung an Dieter Eich wachhalten will, kämpft für einen Gedenkstein. Einen Entwurf gibt es bereits. »Wir wollen in der Bevölkerung die Tatsache verankern, dass er ein Naziopfer ist«, sagt Peters. Er warnt aber davor, die Erarbeitung der Inschrift sowie die Wahl des Aufstellungsortes aus der Hand zu geben. Peters verweist auf schlechte Erfahrungen mit offiziellen Stellen in anderen Fällen, die kritische Textpassagen wegfallen ließen oder wenig sichtbare Standorte ausgesucht hätten.

Linke Erinnerungsarbeit kann aber auch ganz anders aussehen. So wie bei der Bundestagsabgeordneten Ulla Jelpke zum Beispiel, die die wechselnden Bundesregierungen mit parlamentarischen Anfragen zu den Opfern rechter Gewalt unter Druck setzt. Nach offizieller Zählung sind seit der Wiedervereinigung 62 Menschen aus rassistischen und neonazistischen Motiven ermordet worden. Initiativen wie die Beratungsstelle Opferperspektive zählen allerdings über 180 Mordopfer. Diese Diskrepanz ist für LINKEN-Politikerin Jelpke der Grund, immer wieder nachzubohren. »Es darf keine staatliche Definitionsmacht darüber geben, wer Opfer rechter Gewalt geworden ist«, sagt sie.

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