Demonstrationen pro und kontra Verfassung

In Ägypten spitzt sich die Konfrontation zu

  • Pedram Shahyar, Kairo
  • Lesedauer: 4 Min.
Der Machtkampf des ägyptischen Präsidenten mit der Justiz geht in eine neue Runde. Das oberste Verfassungsgericht verschob am Sonntag eine Anhörung, die zur Auflösung der von Islamisten beherrschten Verfassunggebenden Versammlung und des Oberhauses im Parlament hätte führen können.

Der Nahada-Platz in Giza ist deutlich kleiner als der legendäre Tahrir in der Kairoer Innenstadt, mit dessen Dauerbesetzung Demonstranten vor 22 Monaten Präsident Hosni Mubarak zur Amtsaufgabe nötigten. Aber er war am Sonnabend ebenfalls sehr gut gefüllt. Den ganzen Tag über kamen Menschen aus den verschiedensten Teilen der Stadt, um ihre Sympathie mit der Politik der Muslimbrüder und ihrem Präsidenten Mohammed Mursi zu bekunden.

Allerdings hatte man den Eindruck, dass ihre Demonstration zentral organisiert und koordiniert war. Anders als bei den Kundgebungen der Opposition auf dem Tahrir-Platz, zu denen die Teilnehmer aus den Stadtteilen häufig zu Fuß ziehen, hatten die Muslimbrüder offenbar viele Busse besorgt, die ihre Anhänger nach Giza brachten.

Nach Angaben der Kairoer Zeitung »Al Ahram« sind so über den ganzen Tag weit mehr als 100 000 in der Millionenstadt nahe den Pyramiden, 20 Kilometer südwestlich der Hauptstadt, zusammengekommen. Dennoch waren es wohl weniger als bei der Opposition am Dienstag. Während auf dem Tahrir-Platz auf den Transparenten unverhohlen Mursis Rücktritt verlangt wird, beschränkten sich die Parteigänger des erst ein halbes Jahr im Amt befindlichen Präsidenten auf Parolen mit Forderungen nach mehr Religiosität in der Öffentlichkeit, nach Aufwertung der Scharia in der Verfassung und nach einem islamischen Staat. Auf Transparenten wurde Mohammed Mursi aber auch als »Beschützer der Revolution« gefeiert.

Neben den Muslimbrüdern waren viele Anhänger der ex᠆trem konservativ-religiösen Salafisten aufmarschiert, was sich an vielen schwarzen Fahnen und an Flaggen Saudi-Arabiens zeigte. Es sieht aus, als hätten die bisher von einer moderaten Führung geleiteten Muslimbrüder für dieses öffentlichkeitswirksame Kräftemessen den Pakt mit den religiösen Rechten gesucht, um eine neue Verfassung gemäß ihren Wünschen durchzusetzen.

Mursi hatte in den letzten Tagen zwar wieder versucht, sehr moderate Töne anzuschlagen. In einem längeren Fernsehinterview betonte er ein weiteres Mal, dass seine neuen Machtbefugnisse allein zum Schutz der Revolution und für eine Übergangsphase gedacht sind. Er weigere sich, so erklärte Mursi, die Christen im Lande, die Kopten, als »eine Minderheit« zu bezeichnen, weil sie »ein elementarer Teil der ägyptischen Nation« seien.

Allerdings suchten manche seiner Unterstützer auf der Straße die Konfrontation. Gegner Mursis und des Verfassungsentwurfs wurden als Gottlose beschimpft, die gegen den Islam seien. Insbesondere in ländlichen Gebieten werden sie damit vermutlich überwiegend auf Zustimmung stoßen und so auch ein Ja zur Verfassung bewirken.

Trotz der Proteste der Opposition - das machte Mursi unmissverständlich klar - soll aber am Fahrplan des Verfassungsprozesses festgehalten werden. Das Referendum über die Verfassung, so Mursi am Sonnabend, werde wie geplant am 15. Dezember abgehalten.

Wie diese Abstimmung konkret ablaufen soll, ist noch unklar. Die Justiz, die für die Durchführung eines Referendums zuständig ist, befindet sich im Streik und weigert sich, den Wahlprozess zu organisieren. Eine Mehrheit für den Verfassungsentwurf der Islamisten ist dennoch sehr wahrscheinlich. Wie groß sie ausfällt, entscheidet maßgeblich über Stärke oder Schwäche der neuen politischen Herrscher Ägyptens.

Das islamische Recht – die Scharia

Die islamische Rechts- und Lebensordnung Scharia soll in der neuen ägyptischen Verfassung zentrale Bedeutung haben. In Scharia-Angelegenheiten soll künftig die Meinung der obersten Religionsgelehrten des Kairoer Al-Azhar-Instituts eingeholt werden. Das ist eine Stärkung traditionalistischer islamischer Rechtspositionen.

Die Scharia gründet auf dem Koran und der überlieferten Lebenspraxis des Propheten Mohammed. Es gibt aber kein für alle Muslime gültiges Werk, sondern unterschiedliche Auslegungen verschiedener – sunnitischer wie schiitischer – Rechtsschulen aus dem 7. bis 10. Jahrhundert.
In der islamischen Theologie gilt die Scharia als die Ordnung Gottes, die Frieden und Gerechtigkeit schafft. Der Islam betrachtet dabei Politik und Religion als eine untrennbare Einheit; die Scharia ist das politische und gesellschaftliche Ordnungsprinzip. Sie regelt nicht nur Rechtsnormen wie das Familien- und Strafrecht, sondern auch religiöse Vorschriften für Muslime.

In Iran (schiitisch) und Saudi-Arabien (sunnitisch) ist die Auslegung der Scharia, was grausame Bestrafungen wie das Steinigen untreuer Ehefrauen betrifft, besonders nah am Mittelalter. (dpa/nd)

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