»Die Tage des US-amerikanischen Imperiums sind gezählt«

Johan Galtung über Irak, gewaltfreien Widerstand und die Welt von 2020

  • Lesedauer: 11 Min.
Der norwegische Politologe und Sozialwissenschaftler Johan Galtung (75) verweigerte als junger Mann den Kriegsdienst und ging dafür ins Gefängnis. 1959 gründete er in Oslo das Internationale Friedensforschungs-institut (PRIO) - das erste seiner Art in Europa. 1987 erhielt er den Alternativen Nobelpreis, 1993 den Gandhi-Preis. Als Berater von UNO-Organisationen, Vermittler in zahlreichen Konflikten und Gastprofessor an 30 Universitäten zwischen Hawaii und Kyoto ist er weltweit unterwegs.1989 gründete er Transcend, ein Entwicklungs- und Friedensnetzwerk für Konfliktforschung und Globalisierung (www.transcend.org), in dem 300 Forscher aus 80 Ländern zusammenwirken.Dieser Tage führte Prof. Galtung - eingeladen von der Stiftung Schloss Neuhardenberg - ein Streitgespräch mit dem US-amerikanischen Politologen Samuel P. Huntington. Im Anschluss beantwortete der norwegische Forscher in Neuhardenberg Fragen unseres Mitarbeiters Jochen Reinert.
ND: Haben Sie schon früher einmal mit Samuel P. Huntington die Klinge gekreuzt?
Galtung: Wir kennen uns seit den 50er Jahren, als wir an der New Yorker Columbia-Universität lehrten. Seither sind wir uns viele Male begegnet, unsere Differenzen sind geblieben, wenn sie auch - wie sich in Neuhardenberg zeigte - geringer geworden sind.

Was ist Ihre Hauptkritik an Huntingtons Thesen, die er unter anderem. in dem vieldiskutierten Buch »The Clash of Civilizations« (Der Kampf der Kulturen) äußerte?
Das Buch ist ein Etikettenschwindel. Es steht fast nichts über Zivilisation darin, sondern nur etwas über Regionen. Die meisten haben lediglich diese vier Worte »The Clash of Civiliziations« gelesen. Es ist eigentlich nur eine müde politologische Analyse über die politischen, ökonomischen und militärischen Kapazitäten der wichtigsten Weltregionen. Ansonsten: Wir sind beide Wissenschaftler und sehen die Wirklichkeit, die globalisierte Welt, ziemlich klar.
Der Hauptunterschied ist unsere Sicht auf die Vereinigten Staaten, auf ihre anmaßende Rolle in der Welt. Aber auch Sam Huntington sieht das amerikanische Imperium heute kritischer, als er dies vorher getan hat. Ich glaube, dass es mit dem amerikanischen Imperialismus abwärts geht, und auch Sam sieht die Symptome: Weniger Länder als vorher gehorchen den USA, die Konkurrenz wird größer: China, Russland, Indien, Frankreich und Deutschland. Die Europäische Union wird in den USA merkwürdigerweise kaum wahrgenommen - wenn der Elefant groß genug ist, dann sieht man ihn nicht.
Ich sage immer: »Ich liebe die USA, aber ich hasse das amerikanische Empire.« Und ich meine das ganz ernst. Ich habe die Auswirkungen des Imperiums auf der ganzen Welt gesehen, und ich sage: Seine Tage sind gezählt. 2020 wird das Imperium am Ende sein.

Das ist eine sehr spektakuläre Voraussage. Worauf gründet sie sich?
Ich mache einen Umweg. Ich habe 1980 das Gleiche über die Zukunft der Sowjetunion gesagt. Ich habe sechs Widersprüche im Sowjetimperium diagnostiziert: zwischen der Sowjetunion und den Satellitenstaaten, die gern unabhängig würden; zwischen Russland und den anderen Nationen in der Sowjetunion, die gerne mehr Autonomie - und einige von ihnen die Unabhängigkeit - haben wollten; zwischen Land und Stadt usw. Meine These war: Wenn man versucht, einen Widerspruch zu entschärfen, dann kommen die anderen zum Tragen, dann kommt es zu Demoralisierung. Schließlich ist das Sowjetimperium zerfallen.
Im Hinblick auf die USA habe ich 1999 eine Liste von 15 Widersprüchen aufgestellt. Nummer vier auf meiner Liste war der Widerspruch zwischen Staatsterrorismus und Terrorismus. Damals habe ich gesagt, dass man nicht so viele Menschen aus imperialen Gründen töten kann, ohne dass es eine Gegenreaktion gibt. Ich habe sogar den Herbst 2001 für eine solche Reaktion vorausgesagt. Und es kam so.
Die USA könnten einem tiefen Sturz entgehen, wenn sie wirtschaftliche Gleichheit in der Welt anerkennen, wenn sie bereit sind, politisch als ein Land unter anderen aufzutreten, und ihre militärische Präsenz in den 140 Ländern aufgeben, in denen sie gegenwärtig Streitkräfte stationiert haben.

Die Okkupation Iraks ist derzeit der sichtbarste Ausdruck der imperialen, auf geostrategische Vorteile und Ressourcenkontrolle gerichteten Politik der USA. Glauben Sie, dass die Irak-Rechnung der Bush-Regierung aufgeht?
Nein, die USA haben in Irak keine Chance. Die wichtigste Frage ist nicht, ob sie ihre Truppen abziehen, das werden sie selbstverständlich tun. Das Wichtigste ist vielmehr, dass es einen großen Unterschied zwischen Irak und Vietnam gibt. Vietnam war ein Land, eine Nation, vom Westen geteilt. Als sich die USA-Truppen herauszogen, vereinigten sich die beiden Teile problemlos; das haben die Vietnamesen meisterhaft geschafft. Irak dagegen ist kein einheitliches Land. Es ist 1916/18 von zwei Beamten des britischen Außenministeriums am grünen Tisch geschaffen worden. Deshalb wird es große Probleme geben, wenn die USA-Truppen aus Irak abziehen.

An welche Schwierigkeiten denken Sie da?
Irak ist dreigeteilt. Im Landesnorden leben vier bis 4,5 Millionen Kurden, die ihre Autonomie bewahren wollen, im Süden die Schiiten, fast zwei Drittel aller Iraker, dazwischen eingeklemmt die Sunniten. Sie haben das Gebiet rund 600 Jahre lang regiert, obwohl sie eine Minderheit sind. Der letzte sunnitische Herrscher war Saddam Hussein. Eine Lösung des internen Irakkonflikts könnte darin bestehen, dass die Kurden und Schiiten großzügig sind und sagen: Wir werden alle Bevölkerungsgruppen an den Öleinkünften beteiligen. Eine andere Lösung wäre, dass die internationale Gemeinschaft die Sunniten subventioniert. Am Ende könnte eine sehr sanfte Föderation oder Konföderation oder etwas dazwischen entstehen.
Übrigens: Im Hinblick auf Irak hat sich Deutschland als wirklicher Freund der USA erwiesen, als es sich weigerte, zusammen mit anderen »Willigen« in Mesopotamien einzumarschieren. Und ich habe mit Interesse von Frau Merkel vernommen, dass sich die deutsche Außenpolitik nicht ändern soll. Der designierte neue Außenminister kommt ja von der SPD und ist ein Schröder-Appendix.

Kurden, Schiiten, Sunniten - glauben Sie, dass sich die Lage in Irak nach dem unlängst abgehaltenen Verfassungsreferendum zum Guten verändert?
Nein, denn die Beziehungen zwischen den drei großen Bevölkerungsgruppen sind in dieser Verfassung nicht gut genug geregelt. Sie bietet keine Lösung. Denken Sie nur an den nicht erlahmenden Widerstand. Nach meiner Schätzung sind 80 Prozent der Iraker gegen die Okkupation. Und diejenigen, die das am meisten artikulieren, sind die Islamisten.
Es gibt immer Menschen, die mehr Mut zum Widerstand haben als andere. Als Beispiel habe ich den norwegischen Widerstand gegen die deutsche Besatzung während des Zweiten Weltkriegs vor Augen. Dort waren die Kommunisten am aktivsten. Das hat Goebbels ausgenutzt und gesagt, wir wollen ja nur die Norweger vor dem Kommunismus schützen. Das hat der norwegischen Bürgerschaft gefallen, sie hat nicht sehr viel gegen die Besatzung getan. Dann kam der Frieden, und man hat den Kommunisten nicht einmal »Danke« gesagt.

Jeglicher Widerstand, sagten Sie auf dem jüngsten Irak-Tribunal in Istanbul, ist legitim. Rechnen Sie dazu auch die barbarischen Selbstmordattentate gegen unschuldige Zivilisten?
Nein. Ich habe gesagt, dass Widerstand legitim ist, aber auch, dass gewaltfreier Widerstand besser wäre, dann hätte man viel mehr Erfolg. Teilweise ist der Widerstand in der Tat barbarisch, und es ist klar, dass die Selbstmordattentäter nicht die Sympathien der Welt haben. Aber ich habe in Istanbul auch gesagt, dass im Widerstand - auch in Norwegen, um bei unserem Beispiel zu bleiben - immer eine Unmenge von Fehlern gemacht wird, in Norwegen etwa wurden Leute liquidiert usw.

In Istanbul haben Sie auch angemerkt, dass es der Friedensbewegung nicht gelang, den »irakischen Freunden unsere Einsichten in einen gewaltfreien Widerstand zu vermitteln«.
Das war selbstkritisch. Ich habe es nicht geschafft, alle anderen auch nicht. Das ist angesichts der täglichen Gewalt sehr schwierig. Dennoch: Es muss in Zukunft besser gelingen.

Sie propagieren den Wirtschaftsboykott als eine gewaltlose Methode, um das Imperium zu treffen.
Ja, denn ein Wirtschaftsboykott kann sehr wirksam sein. Denken wir nur an Gandhis Methode, das britische Empire zu bekämpfen, an die Aktionen gegen das Apartheid-Regime in Südafrika, an den Boykott gegen Shell im Zusammenhang mit der Nordsee-Bohrinsel Brent Spar oder gegen französische Waren während der Atomtests in Polynesien. Nach der illegalen USA-Invasion in Irak wurden besonders in Frankreich und Deutschland weniger USA-Waren gekauft. So hat Coca Cola im ersten Jahr des Irakkrieges in Deutschland 24 Prozent weniger umgesetzt.

Kurz vor Beginn des ersten USA-Krieges gegen Irak 1991 hatten Sie einen 12-Punkte-Friedensplan für die Region vorgelegt. Was müsste heute geschehen, um einen sicheren Frieden in Nah- und Mittelost zu schaffen?
Zuerst sollte eine Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Mittelost nach dem Modell der Europäischen Sicherheitskonferenz von 1972 bis 1975 einberufen werden. Diese Konferenz hatte die ganze Situation verändert. Zweitens müssen die Amerikaner und ihre »Koalition der Willigen« aus Irak abziehen. Die Amerikaner haben längst einen Abzugsplan. So langsam verstehen sie, dass ihre Anwesenheit die Ursache für die anhaltende Gewalt ist. Drittens wäre es gut für die Stabilisierung der Lage, wenn die »Willigen« - nicht notwendigerweise alle, sondern einige von ihnen - bereit wären, Kompensation für ihre Zerstörungen in Irak zu bezahlen. Mein Land, Norwegen, könnte damit anfangen. Wir waren willig, wir waren in Irak dabei unter einer konservativen Regierung unter einem christlichen Fundamentalisten. Jetzt haben wir ein rot-grünes Kabinett in Oslo.

Glauben Sie, dass die USA ihre militärischen Drohungen gegenüber Iran und Syrien wahrmachen?
Sie werden zunächst versuchen, ihre Ziele politisch zu erreichen. Ich glaube, sie werden keinen Erfolg gegenüber Iran haben, aber vielleicht gegenüber Syrien. Iran hat einen geistigen Kern zum Widerstand, Syrien nicht. Syrien hat seine Ideologie, den Baathismus, ausgespielt. Im diplomatischen Tauziehen um Iran glaube ich allerdings nicht, dass die USA Erfolg mit ihrem Kurs im UNO-Sicherheitsrat haben, weil die Veto-Mächte Russland und China, aber teilweise auch Frankreich, zu viele Interessen in Iran haben.

Seit 50 Jahren bereits betreiben Sie Friedensforschung - was ist Ihre wichtigste Erfahrung?
In über 1000 Workshops und Hunderten Vermittlungen bzw. Beratungen habe ich fehlende Kreativität bei der Eindämmung und Lösung von Konflikten beobachtet. Man muss versuchen, über die bestehenden Horizonte hinauszugehen. Ich war 34 Mal in Sri Lanka, um in dem singhalesisch-tamilischen Konflikt zu vermitteln. Ich habe eine asymmetrische Autonomie für die auf Selbständigkeit bedachten Tamilen vorgeschlagen. Aber noch nichts ist erreicht. Beide Seiten wollen immer noch militärisch gewinnen. Mein Rezept: Man muss beiden etwas bieten, was besser ist als zu gewinnen.

Sie haben das Erbe Ihres Freundes Robert Jungk als Zukunftsforscher angetreten...
Ja, das ist ein Teil meiner Arbeit.

...und wir haben schon einen Blick in das Jahr 2020 geworfen. Welche Stellung könnte dann China in der Welt einnehmen? Wird es ein machtpolitisches Triangel China-Russland-Indien geben?
Genau das. Und das haben die USA verursacht. Mit der Einkreisung dieser Staaten. Das hat 1996 mit der Ausdehnung der NATO in Richtung Osten begonnen. 2020 werden 40 Prozent der Weltbevölkerung in diesen drei Ländern leben. Wir konstatieren in China und Indien ein großes Wachstum, und zusammen mit Russland verfügen diese Länder über riesige Ressourcen. Ich bin mit einer japanischen Frau verheiratet und würde es gern sehen, wenn Japan zusammen mit Korea und China einen Schulterschluss übte, aber das wird wohl nicht eintreten, sondern jenes Triangel wird entstehen. Auf der anderen Seite haben wir die Europäische Union, und dazwischen werden die Vereinigten Staaten so langsam ihren Status verlieren.

Sie haben selbst am Weltsozialforum in Porto Alegre teilgenommen. Welche Zukunft sagen Sie dieser Bewegung voraus?
Von Porto Alegre und den Weltsozialforen soll man keine große Sachen, Resolutionen usw. erwarten, sondern tausend kleine, aber sehr wichtige Dinge. Zum Beispiel die Tischler aus Afrika, Asien und Südamerika, die in Porto Alegre darüber debattierten, was das lokale holzverarbeitende Handwerk gegen die zunehmende Verwendung von Plaste machen kann. Das sieht politisch harmlos aus, aber man findet in der Welt eine Menge Bewegungen, die von Porto Alegre inspiriert sind und die ihre Erfahrungen mit anderen Bewegungen austauschen. Wenn wir sagen, dass die Globalisierung von oben umgekehrt werden muss in eine Globalisierung von unten, dann sind diese vielen tausend Initiativen und Nichtregierungsorganisationen der verschiedensten Art eine entscheidende Kraft. Sie haben bereits beim Zustandekommen der Landminenkonvention, beim Schuldenerlass und auch beim Ringen um den Internationalen Strafgerichtshof sehr viel geleistet. Das ist ein großes Zukunftspotenzial.

Die Welt von morgen und übermorgen - braucht es da nicht auch eine neue Weltethik?
Selbstverständlich. Ich habe mich schon lange damit beschäftigt. In meinem Buch »Die Zukunft der Menschenrechte« skizziere ich meine Vision von der Verständigung der Kulturen, von einer intensiveren, reicheren weltweiten Ethikkultur, in die nicht nur westliche Werte, sondern zum Beispiel auch islamische Werte wie die Zakat, die obligatorische Armensteuer, oder die aus Hinduismus, Buddhismus und Jainismus kommende Ahimsa, die Gewaltfreiheit, aufgenommen werden sollten.

Welches Potenzial hat die UNO als eine Gegenkraft zur Allmacht des Imperiums?
Die UNO, die UNESCO und andere Spezialorganisationen leisten schon einiges, aber viel mehr ist erforderlich. Im Übrigen plädiere ich für eine Weltvolksversammlung nach dem Schlüssel ein Abgeordneter je eine Million Einwohner. Es gibt ein Europaparlament - warum nicht auch ein Weltparlament? Das wäre gut für die Demokratie. Aber die Vereinten Nationen brauchen auch ein anderes Zuhause. Warum sollte sich die UNO nicht in Hongkong ansiedeln, in einem Umfeld, das nicht so gewalttätig ist wie in New York und wo es keine CIA in allernächster Nähe gibt.

Betrachten Sie die Verabschiedung der UNESCO-Konvention über den Schutz und die Förderung der Vielfalt der kulturellen Ausdrucksformen auch als ein Signal, dass sich die Vereinten Nationen des Drucks der US-Amerikaner erwehren können?
Die UNESCO hat glücklicherweise keinen Sicherheitsrat mit Vetomächten. In einem solchen Falle hätten die USA, die ja zusammen mit Israel als einzige gegen die Konvention votierten, dieses Projekt verhindert. Ich interpretiere die UNESCO-Konvention als ein Beispiel für die Bewegung, die in der Welt vor sich geht: Die USA sind isoliert, und das wird ihnen auf internationaler Ebene noch viel öfter passieren. Wie ich schon sagte: Die Tage des Imperiums sind gezählt.
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