Karl Marx in der Online-Akademie

Die Linkspartei trägt in einem Politprojekt ihre Politische Bildungsarbeit ins Internet. Ein Gastbeitrag

  • Harald Werner
  • Lesedauer: 5 Min.
Für 23 Mitglieder der LINKEN begann der erste Advent nicht mit Kerzenschein, sondern vor den Monitoren eines PC-Kabinetts in der Verdi-Bildungsstätte Lage/Hörste. Sie waren die ersten eines Pilotprojekts, mit dem die Kommission Politische Bildung die Tür zu einer Online-Akademie der Partei öffnete. Ein mehrmonatiger Kurs, der die Lernenden in Präsenzseminaren, aber vor allem auf einer Internetplattform, in die theoretischen Grundlagen linker Politik einführen soll.

Schon nach dem Zusammenschluss von WASG und PDS trafen sich Fachleute aus der politischen Bildungsarbeit beider Parteien, um zu diskutieren, was man heute wissen muss, um die gegenwärtige Gesellschaft zu verstehen und auch verändern zu können. Es entstanden die Umrisse eines anspruchsvollen Lehrplans, der jedoch zunächst zurückgestellt werden musste, weil ein Seminar für neue Mitglieder gefragt war und kein Grundlagenstudium. Erst drei Jahre später war es dann so weit, dass die neu geschaffene Kommission Politische Bildung grünes Licht für ein Grundlagenstudium gab und ein Entwicklungsteam einsetzte. Wobei sich sehr bald herausstellte, dass die anvisierte Stofffülle aus Zeitgründen unmöglich auf ein Dutzend Wochenendseminare verteilt werden konnte. So wurde die Idee eines Internet basierten Fernstudiums geboren, wie es bereits in verschiedenen Universitäten angeboten wird.

Von der Geburt bis zum Start des Projekts waren nicht nur zahlreiche inhaltliche und technische Probleme zu lösen, es gab auch Widerstände. Die einen befürchteten die Wiederauferstehung des Parteilehrjahres, die anderen einen Verlust sozialer Kommunikation und Selbsttätigkeit. Ganz zu schweigen von der Schwierigkeit, sich mit den technischen Details eines E-Learningprogramms vertraut zu machen.

Doch schon die Ankündigung des Startseminars beseitigte die zahlreichen Vorbehalte und beflügelte die Phantasie, aus dem Pilotprojekt eine Dauereinrichtung nicht nur für die Grundlagenbildung, sondern auch für diverse andere Bildungsangebote zu machen. Als im Mitgliedermagazin disput das Projekt vorgestellt und ein Besuch auf der Lernplattform angeboten wurde, klickten sich in weniger als zwei Wochen über 300 Interessierte ein. Die dann folgenden Anmeldungen übertrafen alle Erwartungen, so dass viele auf den nächsten Durchlauf vertröstet werden mussten.

Nicht drei Quellen - aber drei Bestandteile

Im Gegensatz zum Selbstverständnis der marxistischen Orthodoxie hat der Grundlagenkurs mehr als nur drei Quellen, aber er hat trotzdem drei vergleichbare Bestandteile, nämlich Philosophie, Ökonomie und Politik. Nicht in der Form akademischer Disziplinen, sondern als Praxisfelder. Im ersten Kursteil geht es um eine materialistische Sicht auf die Menschwerdung und, vereinfacht gesagt, um Gesellschaftstheorie, die im zweiten Teil mit der Kritik der Politischen Ökonomie fortgesetzt wird. Was die Politik betrifft, so schien es dem Autorenteam für eine so pluralistische Partei wie die LINKE besonders wichtig, das Verständnis für das komplizierte Gewordensein der linken Bewegung zu entwickeln. Eine Ideengeschichte, die mit der Französischen Revolution beginnt und mit der neoliberalen Modernisierung abschließt.

Methodisch ähnelt die Lernplattform einem klassischen Lehrbuch. Zu jedem Thema gibt es einführende, verständliche und kurze Lerntexte, die durch zahlreiche Quellenauszüge, Dokumente oder Erläuterungen ergänzt werden. Doch anders als in einem Lehrbuch, wird auf der Lernplattform gemeinsam gearbeitet. Jedes Thema enthält eine Arbeitsfrage, die nicht einfach Wissen abfragt, sondern weitere Fragen aufwirft, Irrtümer provoziert oder gezielt zur Beschäftigung mit dem vertiefenden Material anregt. Das Team beobachtet das Antwortverhalten, reagiert mit gezielten Nachfragen und gibt Tipps für die Weiterarbeit. So findet ein ständiger, einem Seminar ähnlicher Dialog statt, der durch gemeinsame Diskussionen in Blogs oder durch persönliche Mails ergänzt wird. Taucht ein besonderes Problem auf, wird ein Workshop angesetzt, in den die Lernenden eigene, auch längere Beiträge einstellen können.

Doch es bleibt nicht bei Textbeiträgen. Auf der Plattform stehen zahlreiche thematische Videos und Audiodateien, wo man sich zum Beispiel eine Vorlesung von Ernst Bloch zum Materialismus oder einen Vortrag von Frigga Haug über Marxismus und Feminismus anhören kann. Jeder Teil schließt mit einem Wochenendseminar ab, das vor allem der Diskussion politischer Schlussfolgerungen gewidmet ist und sich auf jene Fragen konzentriert, die beim Arbeiten auf der Plattform nicht ausreichend geklärt werden konnten.

Der heimliche Lehrplan

Schon bei gewöhnlichen Wochenendseminaren zeigt sich, dass am Rande, in den Pausen und beim abendlichen Beisammensein, mehr gelernt wird, als mit dem vorbereiteten Angebot beabsichtigt ist. Dieser heimliche Lehrplan erweitert aber nicht nur die inhaltliche Debatte, sondern dient auch der Verständigung zwischen verschiedenen Strömungen und verstärkt die Identifikation mit der Partei. Das Beste an unserer Bildungsarbeit ist, dass immer wieder der Satz fällt. „Hier kann man sich in der Partei mal richtig wohlfühlen." Schon im Startseminar des Grundlagenkurses und in den ersten beiden Arbeitswochen, wo sich alle auf der Lernplattform tummelten, zeigte sich ein weiterer Effekt: Es bildet sich eine Lern-Community heraus, die einen eigenen sozialen Zusammenhang entwickelt. Gelingt es diesen Effekt durch eine Etablierung und Ausweitung der Online-Akademie zu vervielfachen, dann bekommt die systematische Bildungsarbeit eine Bedeutung, die über das inhaltliche Lernen weit hinausgeht.

Bis dahin aber wird noch viel zu tun sein. Vor allem in manchen Landesverbänden mangelt es noch erheblich an Bereitschaft, die systematische Bildungsarbeit als eigene Aufgabe anzunehmen, Verantwortlichkeiten festzulegen und nicht alles als Bildungsarbeit auszugeben, was sich auf einen normalen politischen Vortrag reduziert.

Harald Werner ist Sozialwissenschaftler, Publizist und Sprecher der Kommission Politische Bildung der Linkspartei.

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