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Kein EU-Geld mehr für Arme?

Neue Pläne der EU-Kommission könnten scheitern

  • Lesedauer: 5 Min.
Nahrungsmittelhilfen konterkarieren ein funktionierendes Sozialsystem, sagen die Einen. Die EU-Mitgliedstaaten schaffen es nicht, ihre Ärmsten zu versorgen, sagen die Anderen. Ein Verordnungsvorschlag der Kommission sorgt für Zoff. Bis zum gestrigen Mittwoch mussten sich die EU-Staaten entscheiden: entweder für die Hilfen oder dagegen.

Noch schlägt das EU-Herz für Arme. Doch bald schon könnte es zum Stillstand kommen. Dann nämlich, wenn sich Deutschland und fünf andere EU-Staaten durchsetzen und ein neues Programm zur Nahrungsmittelbeschaffung für Benachteiligte in der Union scheitern lassen. Mindestens 40 Millionen Arme, so rechnet es die EU-Kommission vor, wären in Europa potenziell davon betroffen.

Für Tafeln, Nahrungsmittelbanken und soziale Verbände ist das ein Horrorszenario. Sie laufen Sturm gegen das drohende Aus der EU-Lebensmittelhilfen. »Nothilfe nur für Banken? Das kann nicht sein!«, wettert zum Beispiel Gerd Häuser, Vorsitzende des Bundesverbandes Deutsche Tafel. Und das, obwohl sein Verband wegen der ablehnenden deutschen Haltung schon heute gar nicht von den EU-Gelder profitiert. »Wir brauchen einen sozialen Nothilfefonds, der Hilfsorganisationen vor Ort bei ihrer Arbeit unter die Arme greift. Eine ersatzlose Streichung des Programms wäre für viele Länder und auch für uns nicht hinnehmbar, da immer mehr Menschen in Europa in Armut leben müssen«, führt Häuser aus.

Bei der EU-Kommission sieht man das ähnlich. Fast traut man seinen Ohren nicht, aus dem Mund des sonst eher für liberale Marktwirtschaftspolitik stehenden EU-Kommissionspräsidenten Manuel Barroso folgende Worte zu hören: »Wir brauchen neue Solidaritätsmechanismen auf europäischer Ebene und ausreichende Ressourcen, um armen Menschen zu helfen, die sich in vielen Fällen in einer echten sozialen Ausnahmesituation befinden. Genau dieses Ziel wird mit dem heute genehmigten Europäischen Hilfsfonds für die am stärksten von Armut betroffen Personen verfolgt.«

Barroso sagte diese Worte Mitte Oktober. Damals stellte seine Behörde ihre neuen Pläne für die Lebensmittelhilfe in Europa vor. 2,5 Milliarden Euro will die Kommission in den Jahren von 2014 bis 2020 zum Ankauf von Lebensmitteln zur Verfügung stellen. Jedes EU-Mitgliedsland, das einen entsprechenden Antrag stellt, bekäme bis zu 85 Prozent seines nationalen Hilfsprogramms von der EU mitfinanziert. »Der vorgeschlagene neue Fonds würde die Integration der sozial schwächsten Menschen in Europa in die Gesellschaft spürbar unterstützen«, so László Andor, EU-Kommissar für Beschäftigung und Soziales.

Dass es überhaupt ein neues EU-System geben muss, um Arme zu unterstützen, liegt an Deutschland. Die Bundesregierung hatte 2009 die EU-Kommission vor dem Europäischen Gerichtshof verklagt. Damals betrugen die Hilfszahlungen aus Brüssel 500 Millionen Euro. Deutschland argumentierte, dass sich diese Summe mit dem Programm nicht rechtfertigen lasse, in dessen Namen das Geld ausgeschüttet wurde.

Um das zu verstehen, muss man auf die Ursprünge der Hilfen zurückgreifen. Das »Programm für die Abgabe von Nahrungsmitteln an Bedürftige in der Gemeinschaft« läuft seit 1987. Damals gab es erhebliche Überproduktion in der Landwirtschaft, und anstatt die nicht verkäuflichen Lebensmittel einfach zu vernichten, kaufte die Europäische Gemeinschaft nationale Überschüsse auf und verteilte sie an arme Menschen. In den 1990er Jahren kam die Möglichkeit hinzu, nicht nur die Überschüsse der Mitgliedsstaaten aufzukaufen, sondern auch am freien Markt Produkte zu beschaffen. Das Budget für das Programm wuchs von anfänglich 100 Millionen Euro - in heutiger Währung gerechnet - auf 500 Millionen in 2009 an. Als es 2010 erneut eine halbe Milliarde Euro sein sollte, wurde es der Bundesregierung zu bunt. Sie verwies auf den ursprünglichen Gedanken des Programms, nachdem dieses nur zum Abbau der überschüssigen Lebensmittelproduktion dienen sollte. Folglich dürfe die EU-Kommission auch nur soviel Geld zur Verfügung stellen, wie die aktuelle Überproduktion an Wert besitze.

Der Europäische Gerichtshof gab Deutschland am 13. April 2011 Recht. Seitdem ist die EU-Lebensmittelhilfe in der Krise. Denn da es in der Union nur noch wenig Überproduktion gibt, kann die EU im laufenden Jahr für lediglich 113 Millionen Euro hungernden Menschen helfen. Obwohl im Haushalt 500 Millionen Euro vorgesehen sind. 2013 könnte es sogar zu gar keinen EU-Hilfen kommen, weil die Überproduktion in den Mitgliedsstaaten quasi null ist.

Deshalb hat sich die EU-Kommission ein neues System ausgedacht. Es ist ein Fonds, der nicht mehr von Überproduktionen abhängig ist, sondern jeweils für sieben Jahre eine eigene Budgetlinie im Mittelfristigen Haushaltsrahmen der EU erhalten soll. Vom Ausgang der noch laufenden Budget-Verhandlungen für die Zeit von 2014 bis 2020 wird es abhängen, ob tatsächlich die von der Kommission veranschlagten 2,5 Milliarden Euro für Hungerleidende zur Verfügung stehen könnten.

Vorausgesetzt, das neue System wird von den EU-Gesetzgebern überhaupt angenommen. Beim EU-Parlament wird es wohl kaum Probleme geben. Doch bei den Mitgliedsstaaten im EU-Rat werden außer Deutschland wahrscheinlich auch noch Großbritannien, die Niederlande, Österreich, Schweden und Dänemark gegen die Pläne stimmen. Diese Staaten haben im Rat so viele Stimmen, dass es für eine Sperrminorität reicht. Das Gesetzt wäre dann blockiert.

Frankreich hingegen unterstützt den EU-Fonds bis in die höchste politische Ebene. Sowohl der ehemalige Staatspräsident Nicolas Sarkozy als auch sein Nachfolger François Hollande haben sich mit Nachdruck für eine Annahme der Kommissionspläne ausgesprochen. Vier französische Verbände haben zusammen mit der Deutschen Tafel das Projekt Airfood gegründet. Auf einer Internetplattform werden Unterschriften gesammelt, kann man an politische Entscheidungsträger schreiben oder ein selbst gedrehtes Video einstellen, auf dem zu sehen sein soll, wie Personen essen. Ohne, dass diese Personen wirklich Speisen zur Verfügung haben.

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