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Odyssee und Marx

Poesiealbum: Kunert

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 3 Min.

Früh schon hieß es unter Kritikern, der Dichter Günter Kunert sei den Raben verwandt. Diesen sehr einzelnen Wesen, die bei erfahrenen Hexen, weisen Göttinnen und exzellenten Zauberern wohnen und in Abständen ein kluges Wort fallen lassen. Auch bringen sie Nachrichten aus entfernten Weltgegenden, unbekümmert über Bitterkeit oder Erfreulichkeit des jeweiligen Inhalts. Just dies brachte die Tiere in Verruf bei den Frohnaturen. Oder bei denen, die sich lieber mit Blindheit schlagen, als den Realitäten entgegenzusehen. Wer hingegen gewohnt ist, mit dem Schlimmsten zu rechnen und eine rau geknarrte Wahrheit über die melodiöse Lüge stellt, fühlt sich den Raben verbunden.

Oder eben einem Dichter wie Kunert. Seine Verse: rabendüster, aber doch schimmernd von Schönheit. Voll Heiterkeit auch - darüber, bei Sprache zu bleiben, so, wie man bei Troste bleibt in trostloser Lage. 1968 erschienen Gedichte Kunerts als Nr. 8 in der Reihe »Poesiealbum« des Verlages Neues Leben, nun kam die 3. neu eingerichtete Ausgabe dieses Heftes heraus. Poetische Erkundungen bei schreibenden Kollegen, Lenau und Catull, Heine und Becher, Benn und Ritsos - und Kleist, dem Bruder: »Ein deutsches Schicksal: Was da tönt/ ist stets ein Schuß. Bleib unversöhnt.«

Der 1929 geborene Kunert, vor langem schon von Deutschland nach Schleswig-Holstein gezogen, streift durch antikische und andere von Geschichte gestaltete Trümmer; wohin er schaut, wo immer er steht: Enttäuschung arbeitet ihm Energien zu, wie sie keine Hoffnung aufbrächte. Lust auf Zukunft verträgt sich augenzwinkernd mit kräftiger Abneigung gegen Glücksversprechen. Wo Brecht von den wandernden Steinen am Grunde der Donau ein Lied stetigen Wandels anstimmt, zieht Kunert ein anderes Fazit aller Bewegung: »Am Grunde die Steine/ wandern weiter/ zum Meer und bitten/ die Tiefe um Asyl«.

Der Gedichtsammlung ist eine Grafik beigegeben, vom ironisch-bitteren, verspielt grotesken Zeichner Kunert. Der mächtige Bart eines mächtigen Kopfes hat sich zur weit schwingenden Woge geformt, darauf wankend ein kleines Floß: Odysseus freiwillig an den Mast gefesselt, um nicht in Gefahr zu geraten, dem verhängnisvollen Gesang der Sirenen zu folgen. Der Bart des vielversprechenden Propheten, dessen Gesicht, dessen Haarwallung: Marx sehr, sehr ähnlich. Kunerts Gleichnis wider den Lockruf der höheren Ideen. Das erfüllte Leben: eine Balance zwischen lauter Unzuträglichkeiten. Kunert balanciert königlich leicht.

Poesiealbum: Günter Kunert. Auswahl von Jürgen Müller. Märkischer Verlag Wilhelmshorst. 32 S., brosch., 4 Euro.

Faust III: Schlußvorstellung

Die Ideale abgetan:
Verdorrte Bläter
unbeschreiblich
raschelnd in der Erinnerung:
Grau teurer Freund
ist alle Utopie.
Nie wieder grün
des Lebens abgeholzter
Baum.

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