Herzblut fließt unterm Eis

Martin Scorsese - eine starke Ausstellung in der Deutschen Kinemathek

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.

Wer ins Kino geht, geht in die Verwandlung hinein. Deren vielleicht größte Wirkung zeigt sich, wenn wir das Lichtspieltheater (aussterbendes Wort?) verlassen. In einen Bann gezogen worden zu sein, jetzt offenbart es sich - nämlich: im so ganz anderen Heimweg. Erhabener gehen wir, oder gedrückter; wir schlagen den Mantelkragen ganz anders hoch als sonst; der Himmel - stammt er nicht aus dem Film, den wir sahen? Jetzt wären wir, wie wir so zur Straßenbahn gehen, unverzüglich bereit für eine außergewöhnliche Tat, und noch der Nichtraucher möchte sich eine Zigarette anzünden wie der Held des gesehenen Films. Im illusionär aufgeladenen Heimweg des Zuschauers feiert Kino seinen wahren Triumph. Da kann der Weg in ein Filmmuseum, mitten am Tag, wie eine Entzauberung anmuten - der Blick in die Werkstatt wahrlich als Ent-Täuschung? Der Blick hinter Kulissen als Schlachtung jener geliebten Geheimnisse, die mit Licht und Schatten betrieben werden?

Das Museum für Film und Fernsehen am Potsdamer Platz in Berlin zeigt die weltweit erste Ausstellung zu Leben und Werk des US-Regisseurs Martin Scorsese (»Taxi Driver«, »Aviator«, »Mean Streets«, »Alice lebt hier nicht mehr«, »New York, New York«, »Good Fellas«, »Gangs of New York«, »Shutter Island«). Und gleich vorweg: Es ist eine großflächige Ausstellung, die aber verblüffend intim wirkt. Als habe der Grandiose jeden Besucher persönlich hereingebeten in Büro, Schneideraum, private Filmvorführungsstätte - ins Lebenswerk.

Die Exposition, kuratiert von Kristina Jaspers und Nils Warnecke, zeigt Kostüme, Notizbücher, Briefe, Vertragskopien, eine Kamera von 1980 - da, der Wohnzimmertisch der Familie Scorsese, die Ahnengalerie, die Bilder und katholischen Requisiten von den Wänden des Elternhauses, natürlich unzählige Fotos, und an die Wände geworfen: Szenenausschnitte aus 32 Filmen des Regisseurs.

Es ist das Schönste, was man über diese Schau sagen kann: Technik präsentiert sich, und doch entsteht Zauber; Information füllt Räume, jedoch strahlt eine Atmosphäre des spannenden Erzählens von Dingen, die kein Fakt zu vermitteln vermag; aus dem Wirklichen der Stücke schimmert jenes Unwirkliche der bösen, bitteren, beseelenden Märchen des Wunders Film.

Da, das Sträflingshemd, das Robert De Niro in »Kap der Angst« trug, zerrissen, wahrlich: blutvoll - und da, Boxershorts und Boxhandschuhe des Jake LaMotta, der, wie man im Szenenclip sehen kann, »Wie ein wilder Stier« auf die Wand drischt, wie wahnsinnig, schmerzbetäubt, brüllend, lallend, weinend: »Ich bin kein Tier.« Hose und Hemd sind Ausstellungsgaben von De Niro, dessen Verträge die Klausel enthalten, dass er seine Kostüme nach Abschluss der Dreharbeiten behalten darf. Auch dies ein Zeichen für den illusionären Realismus des Kinos: Da nimmt einer mit in sein Leben, was sein Leben ja auch ist - ohne es je wirklich zu sein; da setzt einer alles aufs Spiel, verschmilzt noch im Requisitösen mit der Fiktion, die auf Leinwände geworfen wird.

Zu sehen auch ein Kostüm von Cate Blanchett, ein Hut von Leonard DiCaprio. Blick auf Dreh-ortszenen. Scorsese und seine Schauspieler. Das Kino mag eine Maschine, eine Hochtechnik sein - hier wird man von einem Lebensgefühl gepackt, als sei jeder Kuss tödlich, als würde jedes Herz bluten, sobald man ihm zu nahe kommt, als sei die Welt eine räudige Hündin, die doch Zuneigung will. Und wie alles mal begann! Es gab Zeiten, wie man den ausgestellten Verträgen entnehmen kann, da hatte ein Film 300 000 Dollar Etat, und das Honorar des Regisseur betrug 8000 Dollar plus 5 Prozent des Einspielgewinns.

Fast 600 Exponate (Leihgaben auch von Kameramann Michael Ballhaus, Autor Paul Schrader, Kostümbildnerin Sandy Powell) erzählen, wie sich ein Mensch ans Kino verliert, an den nicht endenden Film, der dem Manne quer über die Seele läuft wie ein ewig laufendes Band der Bilder. Am Eingang zur Ausstellung »The Big Shave«. Ein früher Kurzfilm. Rasur-Blut tropft in den Beckenabfluss. Hitchcocks »Psycho«-Dusche lässt grüßen. Für Scorsese damals eine Metapher auf das sinnlose Blutvergießen in Vietnam.

Wir blicken auch auf den kleinen Fernseher der Einwandererfamilie Scorsese, 1948 war\'s, da sah Marty, nach Downtown ins Little Italy von Manhattan gekommen, erste Filme und war fortan an seine Bestimmung gefesselt. Ein Storyboard, eine farbig gezeichnete Filmgeschichte in zahllosen kleinen Bildern, zeigt die Handlung eines Monumentaldramas aus der Römerzeit, »The Eternal City«. Messer drücken sich in Rücken, Legionen stehen stramm, aus Bärten blicken finstere Gestalten, im gemalten Vorspann steht: »Mares-co Production« und die Namen der Hauptdarsteller, Richard Burton, Alec Guiness, Jack Hawkins und Virginia Mayo, und es steht da ebenfalls imposant: »Directed and Produced by Martin Scorsese«. Zu ahnen jenes Existenzkompendium aus Gewalt und Schönheit, Kampf und Liebe, Heldendrang und Untergang, das die Filme Scorseses prägen wird. Es ist ein Buntstiftpanorama des Elfjährigen!

Auf einem Stadtmodell New Yorks sind die wichtigsten Drehorte verzeichnet, eine gigantische Singleplattensammlung ist ausgestellt, überhaupt bildet Musik einen entscheidenden Aspekt der Exposition, ein Großwandfoto zeigt Scorsese inmitten der Stones. Und der Regisseur als Filmgeschichtsexperte! Historische Plakate großer Kollegenwerke säumen den Besucherweg, zu sehen sind Briefe von Kurosawa, Losey, Riefenstahl, Wajda.

Vier Großleinwände bieten über zehn Minuten lang eine Art Ästhetik-Trailer des Scorsese-Werkes. Ein raffiniertes Mosaik der Gegenschnitte, und offenbar wird hier, wie die Menschen dieser Filme in einer Einsamkeit zugrunde gehen, die aber mit größtmöglicher Sanftheit erzählt wird; wie der Bestehenswille mit nervöser Wachheit durch diesen realen, erfundenen Dschungel New York pirscht, wie unter dem Eis der Überlebensgesetze das heiße Herzblut fließt und sich sehnt, eine fremde Haut zu wärmen.

Vom kränklichen Kind zum besessenen, bereits zu Lebzeiten legendären Filmemacher - Martin Scorsese. »Nur« eine Ausstellung. Aber doch, hinaustretend ins Berlin, das bald wieder ganz Berlinale sein wird, ein Impuls für einen Heimweg, als habe man soeben Kino - eingeatmet.

Martin Scorsese: Deutsche Kinemathek - Museum für Film und Fernsehen, Berlin, Potsdamer Str. 2 (Sony Center) - bis 12. Mai, Di-So 10 - 18 Uhr (Do bis 20 Uhr)

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