Polnische Debatte um die Gierek-Zeit

100. Geburtstag lieferte den Anlass

  • Julian Bartosz, Wroclaw
  • Lesedauer: 2 Min.
Es kommt nicht oft vor, dass der vom ideologisch-historischen Lehrstuhl - dem Institut für Nationales Gedenken (IPN) - staatlich verordneten Sicht auf Polens jüngere Vergangenheit widersprochen wird. Der 100. Geburtstag Edward Giereks (1913-2001) am 6. Januar war ein Anlass.

Edward Gierek waltete zwischen 1970 und 1980 als Erster Sekretär des ZK der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PVAP). Die Jugendgruppe des Bündnisses der Demokratischen Linken (SLD) in Sosnowiec, Giereks Geburtsort im oberschlesischen Industriegebiet, hatte aus Anlass seines 100. Geburtstags die Idee geäußert, das Jahr 2013 zum »Gierek-Jahr« zu erklären. SLD-Chef Leszek Miller ließ den Gedanken an einen entsprechenden Sejm-Beschluss freilich fallen: »Dafür gibt es im Parlament keine Mehrheit.«

Umso stärker bewegte das Thema die Medien. Im bürgerlichen Blätterwald wurde eine Hetz- und Hohnkampagne gegen das »lächerliche« Gedenkvorhaben inszeniert. Das Wochenmagazin »Wprost« schrieb, Gierek habe das Land durch seine Politik der Kreditaufnahme ruiniert, bis heute auf Polen lastende Schulden gemacht, in Radom und Ursus 1976 streikende Arbeiter durch Polizeieinsatz verjagt, die Abhängigkeit von Moskau vertieft und die »führende Rolle der Partei« in die Verfassung gepresst. Auch das achte Jahrzehnt sei, wie die ganze Volksrepublik Polen, als Epoche der Unfreiheit zu verdammen, lautete der Medientenor. Eben das will die SLD-Basis 2013 bei verschiedenen Aktionen bestreiten.

Pawel Bozyk, dem die »Gazeta Wyborcza« die Veröffentlichung einer Polemik zur Schuldenfrage versagte, publizierte seinen Text daraufhin im linken »Przeglad« und machte darin die These vom Ruin zunichte. In besagtem Jahrzehnt wurden demnach 557 Großunternehmen gegründet, darunter 71 Plattenbaufabriken, 18 Fleischbetriebe, 14 Großkühlanlagen, je zehn Elektronikwerke und Möbelfabriken, je neun Stahlwerke und Elektrizitätswerke, sieben Autofabriken und je fünf Zementwerke und Steinkohlegruben. Insgesamt wurden in dieser Zeit 2,6 Millionen Wohnungen gebaut, 2,5 Millionen Arbeitsplätze geschaffen und Polens Industrie, die 5,2 Millionen Menschen beschäftigte (heute 47 Prozent weniger), wurde mit westlicher Technologie ausgestattet. Der Verkauf (sprich: die Privatisierung) staatlicher Betriebe brachte Nachwende-Polen allein bis 2004 rund 40 Milliarden US-Dollar ein.

Tatsächlich ist das Gierek-Jahrzehnt, was die Dynamik der Modernisierung betrifft, mit keiner anderen Epoche der polnischen Neuzeit zu vergleichen. Und die Schulden? Damals wurden 23 Milliarden US-Dollar an Krediten aufgenommen, was 9,8 Prozent des Nationaleinkommens ausmachte. Heute beläuft sich die Verschuldung Polens auf 324 Milliarden Dollar und steht für 55 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Dies sei Grund für ein wenig Demut gegenüber der Gierek-Zeit, gestand »Polityka«-Autor Jacek Zakowski.

Janusz Rolicki, Verfasser verschiedener Bücher über diese Zeit, bemerkte in »Przeglad«, dass Polen unter Gierek ideologisch ambivalent geworden sei. Bronislaw Lagowski fügte hinzu, gerade die Verfassungsänderung habe insgesamt eine Liberalisierung nach sich gezogen und das Entstehen einer Opposition ermöglicht.

Solche Einschätzungen spielen selbstverständlich für das offizielle Bild der Gierek-Zeit eine untergeordnete Rolle. Dagegen heben Nutzer auf allen Internet-Plattformen hervor: Es gab Arbeit und der Mensch wurde geachtet und nach Jugoslawien konnte man auch fahren...

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