Irrwege der Zivilisation

Wissenschaftler warnt: Der globalisierte Kapitalismus bietet Menschen keine »artgerechte« Umwelt

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 6 Min.

Mit der Beschreibung des Menschen als »Mängelwesen«, das nur unvollkommen an seine natürliche Umwelt angepasst sei, prägte der Philosoph Arnold Gehlen 1940 einen der populärsten und zugleich missverständlichsten Begriffe der Anthropologie. Zwar trifft es zu, dass der Mensch weder Klauen noch Reißzähne besitzt, um sich ähnlich wie ein Raubtier Nahrung beschaffen zu können. Und er verfügt auch über keine dichte Körperbehaarung, die ihn vor den Unbilden der Witterung zuverlässig schützen würde.

Dennoch sehen Evolutionsforscher heute keinen Grund, die biologische Ausstattung des Menschen als mangelhaft zu bezeichnen. Im Gegenteil. Die Tatsache, dass Homo sapiens ökologisch so wenig spezialisiert ist, hat sich für unsere Vorfahren als entscheidender Überlebensvorteil erwiesen. Gewiss können Gazellen schneller laufen, Affen besser klettern und Delfine besser schwimmen als Menschen. Nur: In der Kombination all dieser und anderer Fähigkeiten (wie Tauchen, Springen, Werfen etc.) ist der Mensch im Tierreich ohne Konkurrenz und hat es daher vermocht, selbst die unwirtlichsten Regionen der Erde zu besiedeln.

Andererseits wäre der Mensch in der Geschichte niemals so erfolgreich gewesen, hätte ihn seine Natur nicht gewissermaßen dazu »verdammt«, ein Kulturwesen zu werden, das seine Umwelt fortwährend zielgerichtet verändert. Die dabei erreichten technischen und zivilisatorischen Fortschritte sind zweifellos beeindruckend und haben einem Teil der Menschheit ein Leben in relativer Freiheit und Wohlstand ermöglicht. Die Annahme liegt daher nahe, dass der Mensch grundsätzlich fähig sei, sich an jede natürliche und soziale Umwelt anzupassen. Heute ist ein entfesselter Kapitalismus für die Mehrheit der Erdbevölkerung die soziale Umwelt, in der es jedoch immer schwieriger wird, menschenwürdig zu leben.

Der Wiener Biologe und Philosoph Franz M. Wuketits hat, um diese Situation zu illustrieren, einen provokanten Vergleich gewählt: Während man sich vielerorts um das Wohlergehen von Tieren sorge und zurecht fordere, diese artgerecht zu halten, mute man Menschen oftmals ein Leben in Verhältnissen zu, denen jedes humane Maß fehle. Die Folgen sind bekannt. So leiden schätzungsweise rund ein Viertel der Männer und Frauen in den westlichen Industrienationen an psychischen Erkrankungen. Auch die sich häufenden Fälle von Burnout deuten darauf hin, dass unter den gegenwärtigen sozialökonomischen Bedingungen viele Menschen an die Grenzen ihrer Anpassungsfähigkeit gelangt sind. Und das ist nicht ihrem eigenen Versagen geschuldet, sondern einer Gesellschaft, welche die elementaren Bedürfnisse des Menschseins zunehmend ignoriert.

Einige dieser Bedürfnisse habe uns die Evolution mit auf den Weg gegeben, sagt Wuketits, dessen Credo lautet: Nur wer den Blick auf unsere stammesgeschichtliche Vergangenheit wagt, kann manche Merkwürdigkeit der Gegenwart richtig verstehen. Ein Beispiel: Über die längste Zeit ihrer Geschichte lebten die Menschen in kleinen Gruppen, in denen jeder den anderen kannte und sich notfalls um ihn kümmerte. Dagegen kann sich in einer anonymen Massengesellschaft wir der unsrigen die Fähigkeit zur Empathie nur schwer entfalten. Wuketits plädiert deshalb für die Schaffung überschaubarer sozialer Strukturen innerhalb der Anonymität, in denen der Einzelne Anerkennung findet und so imstande ist, ein stabiles Selbstwertgefühl zu entwickeln.

Ein auffälliger Mangel der modernen Zivilisation liegt überdies in der Missachtung von Traditionen. Nehmen wir als Beispiel die Kindheit, die, wie man spätestens seit Rousseau weiß, eine eigenständige Phase in der Entwicklung des Menschen darstellt. Denn sie erlaubt es den Heranwachsenden, die Chancen und Risiken des Lebens spielerisch zu erkunden. Heute indes werden schon die Kleinsten einem stetig wachsenden Leistungsdruck unterworfen, der viele überfordert und die Kindheit auf eine Art Vorbereitungslehrgang für das Erwachsensein reduziert. »Die wichtigste und nützlichste Regel aller Erziehung besteht nicht darin, Zeit zu gewinnen, sondern Zeit zu verlieren«, sagte Rousseau, der damit in Politik und Wirtschaft heute nur ein müdes Lächeln ernten würde. Denn die mit Geschäftigkeit angefüllte Zeit gilt längst als kostbarstes Gut unserer Gesellschaft.

Zwar ist der Mensch nicht zum Faulenzen geboren. Aber ein Leben in permanenter Hast und Eile erschwert nicht nur unsere organische Regeneration, es schmälert auch unsere Erlebnisfähigkeit. War es zum Beispiel früher vielen ein Bedürfnis, im Café zu sitzen und mit Freunden zu reden, nimmt man heute, um ja keine Zeit zu verlieren, einen »Coffee to go«. Doch die rasante Beschleunigung des Lebens hat ihren Preis, warnt Wuketits. Denn sie macht uns letztlich anfälliger für Fehler, die im Zeitalter der Steuerung hochkomplexer technischer Systeme verheerende Folgen für die ganze Gesellschaft haben können.

Und auch bei vielen Menschen mündet die stete Überlastung in Beruf und Familie in ein durch Erschöpfung ausgelöstes Versagen. Gleichwohl wird in unserer Gesellschaft nur wenig getan, um neben den Symptomen dieser Entwicklung auch deren Ursachen anzugehen. Stattdessen legen immer mehr »besorgte« Chefs ihren gestressten Mitarbeitern nahe, sich bei einem »Do-Nothing Weekend« zu entspannen, damit sie danach wieder voll in den Berufsalltag einsteigen können - zumindest bis zum nächsten Kollaps.

Gefragt, was wohl das prägende Kennzeichen unserer Zivilisation sei, dürften viele die Globalisierung nennen, die vor allem ein gewaltiges ökonomisches Ausbeutungsprogramm darstellt. Aber sie rührt auch an einen Grundpfeiler der menschlichen Existenz, nämlich dem Bedürfnis nach Geborgenheit. So gesehen ist es kein Wunder, dass junge Menschen, die weder einen festen Job noch ein zuverlässiges Einkommen haben, sich scheuen, eine Familie zu gründen und Kinder zu bekommen. Was das aus Sicht der Evolution bedeutet, muss hier nicht näher erläutert werden.

»Niemand lebt global«, gibt Wuketits zu bedenken, »sondern in seinem eigenen Mikrokosmos, den ihm die hartnäckigen Befürworter der Globalisierung zusehends zerstören.« Man mag hier getrost von »Heimat« sprechen, ohne damit irgendwelche deutschtümelnden Assoziationen zu wecken. Denn nicht jeder fühlt sich überall gleich wohl. Viele brauchen ein intaktes soziales Netzwerk, das ihnen in schwierigen Situationen Schutz und Sicherheit bietet. Wo dieses fehlt, verlieren Menschen leicht den Halt und werden anfällig für allerlei Heilsversprechungen.

Heute wird Globalisierung gern mit Weltoffenheit gleichgesetzt. Zu Unrecht. Denn ein weltoffener Mensch ist neugierig auf andere Länder und Kulturen und bereit, von diesen zu lernen. Aber er wird niemals danach streben, die Vielfalt der Kulturen einzuebnen und an deren Stelle einen für alle verbindlichen »globalen Trend« zu setzen.

Scharf kritisiert Wuketits auch die kapitalistische Fortschrittsideologie und den daraus resultierenden Gigantismus: »Eisenbahnzüge sollen immer schneller, Flugzeuge immer größer, Straßen immer breiter und Bauwerke immer höher werden.« Abgesehen davon, dass niemand solche Dinge wirklich braucht, es sei denn zur Schaustellung nationaler »Größe«, geht deren Realisierung oft zu Lasten des ökologischen Naturgefüges, das im Zuge des ungebremsten wirtschaftlichen Wachstums irreversibel zerstört wird.

Wuketits ist deshalb überzeugt: »Nicht der Mensch soll sich an die Zivilisation anpassen - wir sollten die Zivilisation an uns anpassen.« Denn nur so kann die wachsende Zahl von benachteiligten Menschen zu einem Leben in Würde zurückfinden, für das wiederum eine zivilisierte Gesellschaft ungeahnte Möglichkeiten bietet.

Franz M. Wuketits: Zivilisation in der Sackgasse. Plädoyer für eine artgerechte Menschenhaltung. Mankau-Verlag, 262 S., 19,95 €.

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