Reise in die ungarische Wirklichkeit

Ein kurzes Lehrstück über den alltäglichen Rassismus

  • Zsuzsanna Horváth, Budapest
  • Lesedauer: 3 Min.
Nimmt man den Schnellzug in Richtung Zürich, dauert die Reise vom Keleti-Bahnhof im Zentrum der ungarischen Hauptstadt Budapest zum Kelenfölder Vorstadtbahnhof nicht einmal eine Viertelstunde. Doch kann man der ungarischen Wirklichkeit in dieser kurzen Zeit geradezu unheimlich nahekommen.

Beim Einsteigen am Keleti-Bahnhof wird die Reisende von einem Menschen, den sie unzweideutig den osteuropäischen »Unterklassen« zuordnet, um Auskünfte und Hilfe beim Entziffern eines zerknüllten Fahrplanauszugs gebeten. Da heißt es, sich blitzschnell und unter Konzentration aller Kräfte auf den Schutz der eigenen Handtasche zu konzentrieren. Das weiß die Dame aus Erfahrung.

Im Zug setzt sich der »Verdächtige« zu einem ungarischen und einem deutschen Studenten an den Tisch und beginnt sie zu vollzuschwatzen. Die Reisende verbringt die zehn Minuten bis zur Abfahrt des Zuges mit unverwandtem Starren auf den Mann und all die Laptops, iPhones, iPods und Aktentaschen in seiner Umgebung. Damit glaubt sie ein zweites Mal Diebstahl zu verhindern.

Aber darum, so muss die Reisende feststellen, geht es gar nicht. Als der Zug sich endlich auf seinen 14-minütigen Weg nach Kelenföld macht, nimmt der »Unterschichtler« ein Dutzend Plastikrosenkränze aus der Jackentasche und beginnt sie den Reisenden in den verschiedenen Waggons zum Kauf anzubieten. Niemand wird kaufen, das weiß nicht nur die Reisende, sondern vermutlich auch der Rosenkranz-Händler. Falls völlig unerwartet doch einer sein Portemonnaie zücken oder sich auf andere Weise falsch bewegen sollte, würde er zum Diebstahlsopfer werden, glaubt zumindest die Dame und macht den Schaffner bei nächster Gelegenheit auf Anwesenheit und Tätigkeit des Mannes aufmerksam, der im Zug nach vorne unterwegs sei. Der Schaffner ändert daraufhin unauffällig seine Marschroute und begibt sich in den hinteren Teil des Zuges.

Die tapfere Reisende informiert nun auch den Angehörigen einer von den Ungarischen Staatsbahnen angeheuerten privaten Sicherheitsfirma, der gerade seinen Kontrollgang gemacht hat.

Der Zug hält in Kelenföld. Der »Unterschichtler« wird vom Sicherheitsmann zum Ausstieg geleitet und trifft am Bahnsteig einen Kollegen, der einige Waggons weiter hinten den Zug ebenfalls verlässt. Gewonnen haben beide nichts. Der Zug macht sich auf zur nächsten Station, Tatabánya.

Darauf die Reisende zum Sicherheitsmann: »Sie haben den Herrn einfach so gehen lassen?«

Sicherheitsmann: »Er hatte keine Fahrkarte, werte Dame.«

»Und wenn ich nun keine Fahrkarte hätte nach Tatabánya, dann würden Sie mich dort einfach absetzen? Ich müsste keine Fahrkarte kaufen?«

»Sie verstehen die Situation nicht ganz, werte Dame: Der Herr hatte kein Geld.«

Die Reisende, im Fremdsprachen-Ungarisch der Deutschen: »Sie wollen mir also sagen, dass man in Ungarn, wenn man ohne Fahrkarte in einen internationalen Zug steigt und kein Geld dabei hat, bei der nächsten Station einfach wieder aussteigen darf?«

Der Sicherheitsmann lässt sich erst einmal bequem auf dem Sitz der Dame gegenüber nieder. Er spürt die heraufziehende Kalamität und weiß, dass sie nur durch umfassende Aufklärung abzuwenden ist: »Sie wissen das vielleicht nicht: 90 Prozent der Rumänen und alle Zigeuner, die in Ungarn reisen, haben kein Geld und fahren schwarz. Die Behörden können diese Gruppe nicht in den Griff bekommen. Wir alle leiden darunter, nicht wahr.«

Die Reisende unterbricht ihn: »Sie hätten die Polizei rufen müssen. Ich werde den Vorfall und Ihre beiden Namen den Ungarischen Staatseisenbahnen melden.«

Doch das tut sie nicht. Der Zug passiert den Grenzbahnhof Hegyeshalom und die Dame fasst vermutlich den Vorsatz, nicht zurückzukehren. Die stille Beobachterin hat derweil erfahren, wie sich Behörden und Bevölkerung in Ungarn im Rassismus zusammenfinden, um sich gegenseitig zu erklären, warum der Rechtsstaat nur auf dem Papier bestehen kann.

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