nd-aktuell.de / 26.01.2013 / Brandenburg / Seite 10

Ein freier Geist

Ekkehart Krippendorff im Brecht-Haus

Martin Hatzius

Eine Autobiografie schreiben? Eigentlich anmaßend!, sagt Ekkehart Krippendorff im Literaturforum des Brecht-Hauses. Wen soll das interessieren über den engsten Kreis hinaus? Sanftmütig, gar nicht eitel und fast ein wenig überrascht von der großen Zahl derer, die ihm zuhören, blickt der 78-Jährige ins Publikum. Nicht etwa »Mein Leben« heißt das Buch, das der Politologe und Publizist hier im Gespräch mit Thomas Flierl vorstellt. Er hat seine reflektierenden Erinnerungen »Lebensfäden« genannt, Untertitel: »Zehn autobiografische Versuche« (Verlag Graswurzelrevolution). Um Bilanzen geht es also nicht, nicht um einen Weg entlang fixer Bahnen. Es geht um Prozesse des Erfahrens, die deshalb mitteilenswert sind, weil daraus Gedanken erwuchsen. Ein solches Buch braucht keine strikte Chronologie, es hat Themen. Bei Krippendorff heißen sie: Krieg. Theater. Universitäten. Nationalismus. Amerika. Juden. Italien. DDR. Musik. Religion.

Dass dieser Mann ein bedeutender Friedensforscher geworden ist, linker Professor, Symbolfigur der Studentenbewegung, es nahm seinen Ausgang damit, dass er ein Kind des Krieges war. In der Schlange beim Milchmann in Halberstadt, wo er aufwuchs, erwachte sein Interesse an Menschen, die von den anderen gemieden wurden: ein Kriegsveteran in abgerissenen Kleidern; eine Mutter, von deren Mann man munkelte, er sitze im KZ. Der Junge wusste nicht, was ein KZ ist. Aber er wusste, dass er es erfahren muss. Und als er es erfahren hatte, wusste er, dass dieses Wissen Folgen haben muss im Geist und in der Tat: Jedes Leben soll frei sein von Gewalt und Unterordnung!

Krippendorff spricht freundlich lächelnd. Über seine früh erwachte Lust an allseitiger Bildung und an Kultur, die Horizonte aufreißt (Shakespeare! Mozart! Goethe!). Über die beglückende Erfahrung der Offenheit an US-amerikanischen Universitäten (Studenten und Professoren als Gleiche unter Gleichen!). Über das »rote Bologna«, wo er in den Siebzigern lebte und lehrte. Über das Desinteresse westdeutscher Linker an der Entwicklung der DDR. Darüber, wie ein New Yorker Konzert der Leningrader Philharmoniker ihn während der Kubakrise in der Hoffnung bestärkte, Musik könne Waffen zum Schweigen bringen.

Nicht selten ist Krippendorff in seinem Leben angeeckt - Preis der Selbstermächtigung, ein freier Geist zu sein und zu bleiben. Es scheint, er hat ihn gerne bezahlt.