Die Sehnsucht, die Scheu

Ralf Rothmann lauscht in »Shakespeares Hühner« dem Unergründlichen nach

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 4 Min.

Einen Roman beiseite gelegt und den Erzählungsband von Ralf Rothmann zur Hand genommen, der lange schon auf Rezension wartete: Aufatmen nach einer Enttäuschung. Dabei hatte jener Roman, dessen Autor hier nicht genannt sein soll, doch einen vielversprechenden Titel. Eine Geschichte war angekündigt, die in ferne Länder führt und, nach dem Klappentext zu urteilen, spannend sein soll. Aber dann - ein paar Seiten gelesen und schon müde geworden von einer platt abschildernden Sprache. Sich also wappnen für einen Verriss? Aber warum angesichts so vieler lesenswerter Bücher sich dermaßen kritisch aufplustern, nur um dem Leser abzuraten von einer Lektüre, auf die er womöglich ohnehin nicht verfallen wäre? Und vor allem: Wozu sich zweihundert Seiten lang ärgern?

Dagegen wird von Ralf Rothmann keine spektakuläre Handlung versprochen, aber er bringt Sätze zu Papier, die einen in Vorgänge hineinsaugen, so machtvoll, dass man weiterlesen will. Alles glaubhaft und doch: Hinter den Alltäglichkeiten steht ein Autor, der über die Macht zur Verwandlung verfügt. Zur Verzauberung sogar manchmal. Was umso erstaunlicher ist, als man hier oft Gestalten sieht, die in sich verloren sind, mit denen man nicht gern tauschen möchte. Junge und ältere Frauen, junge und ältere Männer - alle irgendwie einsam im Innern, aber die bunte Welt dringt durch ihre Haut. Sie können sich nicht entziehen.

Der Buchtitel »Shakespeares Hühner« ist der Erzählung »Othello für Anfänger« entnommen, in der zwei junge Mädchen im Schülertheater Othello und Desdemona spielen und eine plötzliche Zuneigung zueinander erfahren, die sie ganz selbstverständlich hinnehmen, ausleben. Aber dann, sie sitzen in Frankreich auf der Terrasse eines Restaurants, kommen drei junge deutsche Soldaten an ihren Tisch. Zwei laut-forsche und ein sanft-scheuer, woraufhin der Ich-Erzählerin ein Spruch ihrer Mutter in den Sinn kommt: »dass das Zauberhafte dieser Welt, auch in der Liebe, nicht von Machern und Denkern geschaffen wird. Die Scheuen bringen es zuwege, die Träumer ...«

»Zuwege« wird in den Texten von Ralf Rothmann freilich nur selten etwas gebracht. »Das Zauberhafte« kann sich ereignen, aber nur für einen Moment, dessen Leuchten die Gestalten in ihrer Verunsicherung vielleicht kaum wahrnehmen. Der Ich-Erzählerin in »Othello für Anfänger« widerfährt ein überraschendes, irritierendes Glück, das sich schon mit Trauer mischt. Ihr bedauernder Gedanke, dass das alles dürftig sei, gemessen am Ideal großer Leidenschaften, ist auch dem Autor nicht fremd. Wenn da in alten Büchern hochtrabend von Shakespeares »Hünen« die Rede war, »die ihre finsteren Schicksale wie riesige Kreuze mit sich herumschleppen«, so waren die beiden Mädchen doch eher so etwas wie »Shakespeares Hühner. Wir machen ein unglaubliches Gegacker um lauter Kram - Prüfungen, Lockenstäbe, Handymarken, Geld - und wissen insgeheim doch alle, dass es nicht das Wahre ist. Dass nichts das Wahre sein kann hinterm Hühnerdraht.«

Von solch einem Lebensgefühl handeln die Geschichten, ob darin eine junge Frau in Paris Kaffee trinkt und versonnen einen älteren Herrn betrachtet, ob ein Paar auf Japan-Reise einen Zen-Tempel besucht oder zwei Halbwüchsige in den sechziger Jahren im Ruhrgebiet es mit einer viel älteren Frau treiben wollen, die unerwarteter-weise ... Man kann sicher sein: Dieser Schriftsteller führt seine Texte zu Wendungen, die verblüffen, erschüttern. Manchmal lässt er Emotionen bloß sanft versumpfen, manchmal bringt er sie an Abgründe heran. Jemandem kann ein ungeahntes Glück widerfahren wie dem kahlköpfigen Hilfsarbeiter, den im Krankenhaus alle »Onkel Gabi« nennen. Aber von den meisten wird ein Weiterleben ohne solche Erleuchtungen verlangt.

»Von der Sehnsucht nach dem Unvermuteten« seien die Geschichten befeuert, heißt es im Klappentext. Treffend gesagt. Um Rothmanns Prosa zu fassen, braucht es indes noch einen weiteren Begriff: das Verschwiegene. Oder sogar: das Unergründliche. Das ist selten etwas schlichtweg Geheimgehaltenes, denn es ist den Gestalten meist selbst nicht ganz bewusst. Auch der Autor unternimmt kaum Anstrengungen, es zu durchleuchten. Wie es in »Othello für Anfänger« heißt: »Es ist ja nicht dieser oder jener Zustand, der das Leben oder sein Geheimnis ausmacht; es sind die Übergänge, die leisen Übergänge, wie in der Musik.«

Ralf Rothmann: Shakespeares Hühner. Erzählungen. Suhrkamp Verlag. 212 S., geb., 19,95 €.

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