Verschollen vor Lampedusa

Tunesische Mütter fragen nach ihren Söhnen, die in Europa ihr Glück suchten

  • Christian Jakob
  • Lesedauer: 5 Min.

Als Rathiba Soyed das letzte Mal die Stimme ihres Sohnes hörte, war alles gut. »Heute ist das Meer ganz ruhig, und wir können los«, sagte der 17-jährige Hatib. Das war am 13. März 2011. Seither verbringt Soyed ihre Tage mit dem verzweifelten Versuch, noch einmal Hatibs Stimme zu hören.

429 Tage später, an einem heißen Nachmittag, steht sie im Innenhof der Universität Monastir, in einer Gruppe von Frauen. Alle tragen schwarze Burkas und haben goldgerahmte Bilder mit den Fotos ihrer Söhne in der Hand. Viele weinen, sie laufen hin und her, diskutieren. Sie alle sind Mütter der »Harraga«, der »Grenzverbrenner«, und die Migrationskonferenz in der Uni ist nur eine ihrer ungezählten Demonstrationen, Mahnwachen und Aktionen, mit denen die Mütter versuchen, das für sie Unfassbare fassbar zu machen. Sie fordern »Wahrheit«, »Gerechtigkeit« oder »Entschädigung«, obwohl sie wissen, dass niemand ihnen zurückgeben kann, was ihnen genommen wurde, und obwohl sie ahnen, dass es Wahrheit sein könnte, was sie am meisten fürchten.

»Unsere Kinder haben in der Revolution gekämpft und alles gegeben«, sagt Soyed. »Auch der Familie haben sie alles gegeben. Sie haben Revolution gemacht und sind losgefahren. Jetzt warten wir auf eine Nachricht.«

Rathiba Soyeds Familie lebt in einem Ort nahe Tunis. Der Sohn hatte gelernt, wie man die Elektrik in Autos repariert. Eine gute Ausbildung, besser als die seines Vaters, eines Taxifahrers, doch am Ende des Tages ging Hatib mit 15 Dinar (etwa 7,50 Euro) nach Hause. Gerade acht Wochen nachdem die Tunesier ihren Diktator Ben Ali aus dem Amt gejagt hatten, wollte er nicht länger darauf warten, was das neue Tunesien ihm zu bieten haben würde. Mit einem Freund machte er sich auf nach Kerkennah, einer kleinen Insel vor der Stadt Sfax. Sie liegt der italienischen Insel Lampedusa am nächsten. »Die Regierung Silvio Berlusconis hatte den ersten Tunesiern, die auf Lampedusa gelandet waren, Visa gegeben, damit sie in andere europäische Länder ziehen. Da haben viele andere hier gedacht: Jetzt oder nie«, sagt Hatibs Mutter

Umgerechnet 700 Euro hatte ihr Sohn gespart, er wollte seinen Führerschein machen und ein Auto kaufen, doch jetzt sollte es mehr sein: ein neues Leben in Italien. Dafür reichte das Geld nicht, aber die Mutter verkaufte einen Ring und lieh sich Geld von ihrem Vater, fast 900 Euro. Bis heute zahlt sie es zurück.

Obwohl sie versteht, dass Hatib ein besseres Leben suchte, wirft sie ihm seine Flucht vor. »Sie waren auf den Straßen und haben Ben Ali besiegt. Aber dann sind sie gefahren. Warum?« Soyed weint. Doch sie will ihre Geschichte zu Ende erzählen. »Er hat eine Woche gewartet, bevor er ein Boot fand, jeden Tag hat er angerufen«, sagt sie. »Er war sicher, dass alles klappt. Ich war sicher, dass er ankommen wird. Ich habe nie gedacht, dass er sterben wird, ich konnte das nicht denken.«

Tausende Tunesier haben die Freiheit des Arabischen Frühlings genutzt, um zu tun, was unter Ben Ali unmöglich war: über das Meer nach Europa zu fahren, auf der Suche nach einem Job, Geld, Glück. Wie viele angekommen sind, weiß niemand. Sicher ist nur: Hunderte sind ertrunken.

Aus Facebook-Posts ergibt sich, dass 42 Personen in dem Boot mit Hatib Soyed saßen. Fünf kamen in Italien an. Zwei leben heute noch dort, die anderen wurden abgeschoben. Sie haben berichtet, wie das alte, viel zu kleine Boot in Seenot geriet ...

Auch Rabih Bouallegue hat einen Freund auf dem Meer verloren. In seinem Blog »L'Angolo de patriota« dokumentiert er das Sterben der tunesischen Boat People. »Die Familien wollen unbedingt glauben, dass alle in Lampedusa angekommen sind«, sagt er. »Sie reden sich ein, dass der italienische Staat sie bis heute in Gefängnissen versteckt.« Doch das hält er für unglaubwürdig. Wahr ist: Italien hat viele der Harraga als »illegale Einwanderer« lange im Gefängnis behalten, bevor sie abgeschoben wurden. Selbst im Sommer 2012 saßen noch Boat People in Internierungslagern auf Sizilien. In Tunesien ist das bekannt, es ist der dickste der vielen dünnen Strohhalme, an die sich die Harraga-Mütter klammern. Manche wollen ihre Söhne auf Fernsehbildern aus Lampedusa erkannt haben. Die tunesische Regierung, fordern sie, müsse in Rom Auskunft einholen. Im April 2012 übermittelte Tunis 550 Fingerabdruckdaten von Verschwundenen nach Italien. Die Abgleichaktion war der größte Erfolg der Harraga-Mütter, viele glaubten an den Durchbruch. Doch es gab keine Übereinstimmungen.

Die Frauen gaben nicht auf. Auch Bouallegue weiß: »Viele der Boat People hatten sich mit Säure die Fingerabdrücke verätzt, damit sie nicht in den EU-Datenbanken registriert werden können.« Doch hätten sie sich wahrscheinlich irgendwann bei ihren Familien gemeldet. Deshalb klammern sich die Mütter daran, dass der italienische Staat sie belügt. Sie wollen einfach nicht glauben, dass ihre Kinder ertrunken sind.

Viele Söhne waren Einkommensquellen ihrer Familien. Rathiba Soyed sagt: »Sie haben uns in einer fürchterlichen Lage hinterlassen. Es ist eine Katastrophe.« Aber hat sie ihren Sohn nicht selbst ermutigt, ihm Geld gegeben? »Ich kann nicht lesen und nicht schreiben«, sagt sie, »Woher hätte ich wissen sollen, dass es gefährlich ist?« Bei einem der Anrufe erzählte ihr Sohn, dass er auf dem Weg nach Kerkennah in eine Polizeikontrolle geraten war. Die Polizisten ahnten sicherlich, was die jungen Männer vorhatten. »Sie hätten sie aufhalten müssen«, sagt Soyed. Sie sind klüger als eine Mutter, die nicht lesen und schreiben kann; sie wissen, welche Gefahren auf dem Meer lauern, und sind verpflichtet, das Leben der eigenen Bürger zu schützen.

Die Harraga-Mütter verlangen eine Entschädigung von ihrer Regierung. Rathiba Soyed findet, dass die Revolution ihr etwas schuldig ist. »Der Präsident ist an die Macht gekommen durch die Revolution, die mein Sohn gemacht hat. Und jetzt sitzt er im Präsidentenpalast, und ich trauere auf dem Friedhof.«

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