Vergebung in der Todeszelle

Bachs Johannespassion als Tanztheater im Berliner Dom

  • Antje Rößler
  • Lesedauer: 3 Min.

In Techno-Clubs, U-Bahnhöfen und Museen hat Christoph Hagel schon Events auf die Beine gestellt. Diesmal zaubert er keine überraschende Location aus dem Hut, denn schon zum zweiten Mal bespielt der dirigierende Regisseur und umtriebige Organisator den Berliner Dom. Nach Haydns »Schöpfung« vor zwei Jahren setzt er nun Johann Sebastian Bachs Johannespassion in Szene. Das Stück hatte am vergangenen Donnerstag Premiere und läuft bis zum Karfreitag.

Christoph Hagel betreibt einen großen Theater-Aufwand mit der früheren, kürzeren und sparsamer besetzen der beiden Bach-Passionen. Es gibt Schauspiel und Tanz, Lichtregie und Filmeinspielung. Geklotzt wird auch bei der Ausstattung: Fünf Tonnen Erde enthält die Bühnenkonstruktion vor dem Altar; Hagels Hinweis auf die nackte Erde von Golgatha.

Der Abend beginnt nicht mit dem Eingangschor, sondern einem kurzen Film. Darin erzählt ein einstiger amerikanischer Gefängnisdirektor von seiner Bekehrung. Jahrelang hatte er Todesurteile vollstreckt, bis ihm ein Mann beim Setzen der letzten Spritze sagte: »I love you«. Daraufhin quittierte der Mann seinen Job.

Christoph Hagel bringt den Gefängnisdirektor, eine Art modernen Pontius Pilatus, als Zeugen für ein transzendentes Geheimnis in unserer Welt auf. In Hagels eigener Inszenierung wird dieses Geheimnis aber vom banalen Diesseits verschluckt. Die modernen Choreographien, die der Regisseur gemeinsam mit dem einstigen Staatsballett-Solotänzer Martin Buczko entwickelt hat, sind weitgehend realistisch und verdoppeln lediglich die Handlung. Da wird Jesus, der eine naturalistische Dornenkrone trägt, vom Mob bedrängt und bespuckt. Später kauert Maria feuchten Auges über der Leiche. Und am Ende wird ein Grab in die Erdbühne gebuddelt. Im Bemühen um »Echtheit« schrammt die Choreographie knapp am Kitsch vorbei.

Eigentlich ist die Johannespassion für eine Inszenierung denkbar ungeeignet. Zwar gibt es den Handlungsstrang der turbulenten Ereignisse: von der Gefangennahme über die Kreuzigung bis zur Grablegung. Drumherum rankt sich jedoch die Reflexion dieses Geschehens in den Arien und Chorälen. Die Musik stellt einen inneren Leidensprozess dar und zieht alle Aufmerksamkeit auf sich. Eine szenische Illustration lenkt daher ab und stört manchmal geradezu. Der Besucher im Dom pendelt mit seiner Aufmerksamkeit fortwährend zwischen Musik und Bühnengeschehen hin und her. Eine innere Einkehr, das Besinnen auf die letzten Fragen von Sterben und Tod, wird damit geradezu verhindert.

Als Dirigent setzt Christoph Hagel auf Willensstärke und Körperkraft, um Chor und Orchester in der Seitenloge sowie die Sänger im Altarraum zusammenzuhalten. Mal wedeln seine Arme wie Windmühlenflügel; dann wieder durchschneiden die Hände wie Schwerter die Luft. Hagels Leidenschaft und Energie sind imposant, obwohl die rasanten Tempi über feine Nuancen und eine deutliche Artikulation hinweg fegen. Hagel lässt den Berliner Symphonikern und dem Berliner Symphoniechor dafür schlicht keine Zeit. Überdies kratzen der lange Nachhall und die elektronische Verstärkung am Hörgenuss.

Dabei hat Hagel gute Tänzer und Sängerdarsteller um sich versammelt. Exzellent ist Johannes Gaubitz als Evangelist; der lyrische, geschmeidige Tenor lässt sich nicht von Hagels Hektik anstecken. Als Jesus bringt Christian Oldenburg, der für den schmucken Brasilianer auf den Werbeplakaten eingesprungen ist, eher einen leidenden Zug als die Erhabenheit des Gottessohnes zum Vorschein. Ulf-Dirk Mädler singt den Pilatus mit sonorer Autorität, und Marlene Dobisch leiht der Maria ihren fein gesponnenen Sopran.

www.johannespassion-im-dom.de

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