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Alles sehen, alles hören

Eine Wiederbegegnung mit dem Schriftsteller Hermann Lenz

  • Klaus Bellin
  • Lesedauer: 6 Min.

In einem französischen Wald fand er im Juni 1940 einen Rabelais-Band, in Leder gebunden. Er freute sich, dass er mit dem Buch dem schrecklichen Alltag trotzen und sein Französisch verbessern konnte. Die Lektüre schützte ihn ein bisschen vor der Wirklichkeit. Es war Krieg, er steckte in der Uniform der Wehrmacht und war bemüht, den Bedrückungen so viel Widerstand entgegenzusetzen wie nur irgend möglich. »Alles ist Schwindel wie ich jetzt sehe«, schrieb er 1941, inzwischen an der Ostfront stationiert, an seine spätere Ehefrau Hanne, »das ganze Getu der ›Dichter‹ der Kriegskameradschaft, das Geschwätz der ›Idealisten‹, die den Krieg als große Zeit gepriesen haben … Wie schlecht, wie angefault, wie völlig ohne edlen Sinn ist diese Zeit, deren ›Ideale‹ bloß niedrigen Schlächtergehirnen entsprungen sind.«

In seinem 1975 erschienenen Roman »Neue Zeit«, den der Insel-Verlag zum 100. Geburtstag seines Autors soeben wieder vorgelegt hat, wird Hermann Lenz später erzählen, wie er im Krieg den »gutmütigen Kameraden« spielte, den »auskömmlichen Kerl«, den Sonderling und Außenseiter, den man für ziemlich verschroben hielt. Es störte ihn nicht. Der Eugen Rapp des Buches, der alles Erleben, alle Erfahrungen, alle Gedanken mit seinem Schöpfer teilt, wunderte sich bloß wie schon so oft, »daß er sich nirgends recht zu Hause fühlte, doch wer fühlte sich im Krieg schon zu Hause; und es könnte möglich sein, daß du sogar in Stuttgart und in München nicht daheim bist, sozusagen …«

Hermann Lenz war stiller Beobachter, ein Fremder und Außenseiter, der Zuflucht in der Literatur suchte, und das blieb er auch, als der Krieg zu Ende war. Er hatte zwischen 1933 und 1940 in Heidelberg und München Kunstgeschichte, Archäologie und Germanistik studiert, war 1936 erstmals mit Gedichten hervorgetreten und saß, kaum aus amerikanischer Gefangenschaft entlassen, schon wieder am Schreibtisch. Schriftsteller wollte er sein, nur das. Und so zog es ihn jahraus, jahrein an seinen Arbeitsplatz in einem Stuttgarter Dachgeschoss, »um zu kritzeln«. Er schrieb und schrieb, verfasste Feuilletons für ein Lokalblatt, Erzählungen und dann Roman um Roman, doch der Erfolg blieb aus. Die Kritik nahm ihn nicht wahr, sie kannte nur einen Lenz, und der hieß Siegfried.

Bei einer Lesung vor der Gruppe 47 fiel Hermann, der Unbeachtete, Ignorierte, gnadenlos durch. Das Urteil einhellig: zu altmodisch, zu brav erzählt, die Moderne glatt verschlafen. Lange danach, in seinen Frankfurter Vorlesungen von 1986, hat Lenz berichtet, wie er dem Zeitgeschmack ausgeliefert war und wie wenig der ihm gefiel: »Ich war anders geortet, geartet oder eingestellt und wusste, was ich wollte, doch das, was ich wollte, war nicht erwünscht. Ist›s darum überraschend, wenn ich mich für überflüssig hielt?‹«

Im vorletzten seiner autobiografischen Romane, »Herbstlicht«, hat Hermann Lenz gleich am Anfang erzählt, wie er nach 51 Jahren sein Stuttgarter Haus und die Dachstube verließ, wie er im Möbelwagen, der ihn nach München brachte, zurückblickte, an die verlassene Heimat dachte und dabei auch an den Freund, der ihm riet, doch um Himmelswillen das Schreiben aufzugeben, wie er dennoch weiter machte und tapfer durchhielt. »Nun ja«, heißt es im Roman über Eugen Rapp, »ohne zu schreiben hätte er nicht leben mögen, und warum? Erst durchs Aufschreiben mildert sich, was dir begegnet, ins Erträgliche.«

Mut hat ihm damals nur Paul Celan gemacht und, Jahre danach, die Bekanntschaft mit Peter Handke, eine folgenreiche Begegnung, die zu einer innigen, hochherzigen Freundschaft führte, dokumentiert in der 2006 im Insel-Verlag publizierten Korrespondenz.

Handke, halb so alt wie der damals fast sechzigjährige Lenz, schilderte am 21. Dezember 1972 in einem Brief, wie er morgens das Buch »Der Kutscher und der Wappenmaler« zu Ende las. Satz für Satz habe er gelesen, schrieb er, einen Monat lang, »sicher ein Zeichen, daß da wirklich ein Schriftsteller arbeitet, und kein bloßer Behaupter.« Im Dezember 1973 begründete er seine Überzeugung in einem langen, suggestiven, bald schon legendären Aufsatz, seiner »Einladung, Hermann Lenz zu lesen«. Der, gerührt und dankbar, schrieb ihm am 3. Februar 1974: »Solch ein Tun wie das Ihre aber ist etwas Unwahrscheinliches, weil ganz und gar unzeitgemäß, denn wer tut heutzutage schon etwas für einen andern.«

Erstaunlich die Resonanz des Handke-Essays: Siegfried Unseld holte den heimlich belächelten Autor mit Provinzgeruch nach Frankfurt/Main zum Insel-Verlag, und auf einmal stand der schmale, leise, bescheidene Mann im hellen Licht. Nach und nach erschien alles, was so lange ohne Beachtung geblieben war, das ganze erstaunliche, umfangreiche Werk. Nun war auch die Kritik auf der Seite des Autors, und mit dem Ruhm kamen die Ehrungen, die wichtigste, der Georg-Büchner-Preis, schon 1978.

Der erste Roman, der im Insel-Verlag erschien, war »Neue Zeit«, in der Chronologie die dritte dieser Eugen-Rapp-Geschichten, in denen Hermann Lenz sein Leben beschrieb, ganz unspektakulär, eigenwillig, sensibel und mit einem präzisen Blick fürs Detail. Er erzählte von seiner Studentenzeit in München und vom Kriegsausbruch, wie man ihn in die Uniform steckte und nach Frankreich brachte. Später, abkommandiert in die Sowjetunion, kam er in einer Schreibstube unter, machte Bekanntschaft mit diesem »ausgedörrten, schweißigen Bezirk der Frontkanzleien, wo jeder ›Kamerad‹ dem andern auflauerte«, gab sich Mühe, die Schrecken zu überstehen, nicht zu schießen, nicht aufzufallen und schon gar nicht Offizier zu werden, holte sich die innere Kraft bei Marc Aurel, Mörike und Stifter, geriet beim Rückzug nach Westen in amerikanische Gefangenschaft, wurde nach Kalifornien verfrachtet und nach einigen Monaten Landarbeit in die Heimat entlassen.

»Alles sehen«, heißt es einmal von Eugen Rapp, »alles hören, alles spüren, alles riechen, was sich dir nur zeigt. Laß es in dich eindringen, nimm daran teil, dann wird es klar.« So hat sich Lenz, der nicht dazugehören wollte, der sich abseits hielt, aber nicht blind und schon gar nicht abgestumpft war, das Erlebte eingeprägt und es drei Jahrzehnte danach in bestechender Klarheit festgehalten. Er sei »meistens von Zweifeln niedergedrückt«, schrieb er 1944 in einem der Briefe an seine Verlobte, die ihn gerade über die Zerstörung Münchens unterrichtet hatte, »aber wer weiß, vielleicht reinigt jetzt diese Zeit die Menschen doch ein wenig. Darauf hoff ich im Stillen und halt das Innere durch einen träumerischen und schläfrigen Nebel vor dem Zerstörerischen geschützt so gut es geht.«

Die acht Romane, in denen Eugen Rapp durchs zwanzigste Jahrhundert geht, bilden das Zentrum des Werks. Es sind Zeitbilder von zarter Intensität. Hermann Lenz, der am 12. Mai 1998 in München starb, war ein Erzähler alter Schule, wie Ludwig Harig sagt, einer, der nie einer Mode folgte, nie dem neuesten Trend. Seine Prosa ist von sympathischer Schlichtheit auch hier, in diesem leisen, nachdenklichen Kriegsbuch.

Hermann Lenz: Neue Zeit. Mit einem Anhang: Briefe von Hermann und Hanne Lenz 1937 - 1945, ausgewählt von Peter Hamm. Insel Verlag, 431 S., geb., 22,95 €.

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