Stechen im Steißbein

Franz Hohler

  • Alfons Huckebrink
  • Lesedauer: 3 Min.

Auf seiner Homepage erlaubt sich Franz Hohler den Spaß, Auszüge aus den heftigsten Verrissen seiner Bücher zu präsentieren. Dort tummeln sich üble Verdikte, unter denen Sticheleien wie »Ernsthaft verstaubt« oder »Etwas ausgeleiert« harmlos erscheinen. Natürlich bietet Hohler die amüsante Sammlung kleiner Boshaftigkeiten mit der augenzwinkernden Sicherheit eines Autors an, dessen Werke meist über den grünen Klee gelobt werden.

In der Erzählung »Der vierte König« (2009) geht es dramatisch zu: Am Dreikönigstag erscheinen bei einem einsamen Juristen, der sich in einer abgelegenen Hütte über den 40. Geburtstag quält und langsam einschneit, gleich vier Könige. Der Vierte ist stumm, kommt bald zurück und fährt den unversehens von fiebrigen Anfällen Geschüttelten mit dem Schlitten in die Stadt. »Balz wollte schreien, aber seine Stimme blieb weg. Der König fuhr mit ihm durch die Hauptgasse des menschenleeren Dorfes, auf das der Schnee wie Papierfetzen fiel …« Im Hospital entfernt man dem Bewusstlosen im letzten Moment einen Abszess am Steißbein. »Sie hätten einen Zwilling haben können, deshalb nennen wir das einen Zwillingsabszess« - der Arzt wundert sich, dass er es damit ins Spital geschafft hat. Denn »von einem vierten König wusste niemand etwas.«

Wie so oft stellt Hohler hier das allzu gewisse Etwas, das sich Leben nennt, infrage. »Wir denken nicht, weil wir erstaunen, hoffen oder fürchten; wir denken, weil wir dabei gestört werden, nicht zu denken«, formulierte einmal der Philosoph Hans Blumenberg. Variantenreich inszeniert Hohler die Störung eines bloßen Lebensvollzugs, ein literarisches Verfahren, das auch dem Leser seine Verstörung gönnt: Nachdenklichkeit - in der Lektüre zum Erlebnis werdend - als narratives Prinzip. Eine in ihrer Regelungsdichte als selbstverständlich empfundene Lebenswelt wird durch ein unvorhergesehenes, oft nicht fassbares Ereignis in eine Erfahrungswelt zurückversetzt. Der Horizont der Alltagswelt entpuppt sich als Teilhorizont.

»Einer wie er«, erkannte sein Kollege Lukas Bärfuss bereits 2005 in einer Laudatio zum Kulturpreis der Stadt Zürich, »schreibt für die extremste Minderheit, den einzelnen Menschen«. Ob Kürzestgeschichten (»111 einseitige Geschichten«), Erzählungen (»Der Stein«) oder Roman (»Es klopft«): Wer zu einem Buch Franz Hohlers greift, lässt sich auf eine Konfrontation mit dem Unbekannten ein, erhält jedoch, weil dessen Wirklichkeit greifbar wird, ein Angebot zur Integration. »Und wenn ich auch weiß, dass eine erfundene Geschichte nie eine Tatsache sein wird«, so Bärfuss, »weiß ich doch dank dir, dass sie wirklich ist.«

Wem das als Risiko erscheint, dem sei versichert, dass er lesend bestens unterhalten wird. Heute wird der Produktive aus Zürich Oerlikon - einer Umgebung, der er in »Spaziergänge« (2012) neue kritisch-liebenswerte Seiten abgewonnen hat - siebzig. Sein Verlag bringt zu diesem Anlass und als Auftakt zu einer Werkausgabe die Sammlung sämtlicher Erzählungen unter dem ach so beredten Titel »Der Geisterfahrer« heraus. Wechseln Sie nicht auf die andere Straßenseite!

Franz Hohler: Der Geisterfahrer. Luchterhand. 576 S., geb., 19,99 €.

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