»La Toma« - die Übernahme geht weiter

Besetzte Fabriken in Argentinien haben Konjunktur

  • Florian Wagener, Rosario
  • Lesedauer: 6 Min.

»La Toma« bedeutet »Die Übernahme«. Es ist der Name eines Kulturzentrums im argentinischen Rosario. Ursprünglich war hier ein Supermarkt beheimatet. Als er 2001 geschlossen werden sollte, besetzten die Beschäftigten das Gebäude und nutzen es seitdem in Selbstverwaltung. Sie kämpfen nach wie vor für die Enteignung der ehemaligen Betreiber, damit die von ihnen gegründete Kooperative den Laden endlich auch offiziell übernehmen kann.

Carlos Ghioldi ist ein Mann über 40, mit langen schwarzen Haaren und einem Schnauzbart. Er ist der Sprecher der Kooperative. Er redet schnell und eindringlich. Ein Mann, der es gewohnt ist zu überzeugen. »Der Arbeitgeberverband, die Justiz und die Spekulanten versuchen nun schon seit elf Jahren, diesen Betrieb zu zerschlagen. Zweimal haben wir ein Enteignungsgesetz erkämpft und zweimal wurde es anschließend für verfassungswidrig erklärt.«

In der Vielfalt liegt die Kraft

Er deutet auf die breite Halle im Inneren des Gebäudes, an deren Rändern kleine Räume mit Holzverkleidungen abgetrennt wurden. Hier und in den anderen beiden Stockwerken haben unter anderem eine Schauspielervereinigung, die Gewerkschaft CTA und verschiedene Menschenrechtsgruppe ihren Sitz. In der Mitte des Saales stehen Tische und Stühle sowie eine Theke mit einer großen Kaffeemaschine dahinter. Nur noch ein Teil des Gebäudes ist einem Lebensmittelladen vorbehalten. »Dies ist ein Ort der Pluralität. Wir haben all diesen Gruppen einen Raum gegeben und sie gehören nun zu uns. Diese Vielfältigkeit macht uns stark.« 35 Arbeiter arbeiten noch in dem Geschäft, während 160 Aktivisten die Räumlichkeiten mit Leben erfüllen.

»La Toma« ist eine von über 220 »empresas recuperadas« in Argentinien - »reaktivierte Unternehmen«. Als im Dezember 2001 die argentinische Wirtschaftskrise ihrem Höhepunkt entgegenstrebte, die Erwerbslosenzahlen rasant in die Höhe schnellten und von einem Tag auf den Anderen die Bankkonten gesperrt wurden, brachen Unruhen aus, in deren Folge in 13 Tagen vier Präsidenten von einer wütenden Menschenmenge aus dem Amt gejagt wurden. In dieser Situation etablierte sich das Phänomen der »reaktivierten Betriebe«. Im ganzen Land besetzten Arbeiter zuvor geschlossene Firmen und nahmen sie, wenn möglich, wieder in Betrieb.

Während andere Krisenakteure in den folgenden Jahren der Stabilisierung wieder von der Bildfläche verschwanden, blieben die reaktivierten Unternehmen ein relevanter Faktor innerhalb der sozialen Bewegungen. Die Beschäftigten eines vom Konkurs bedrohten Unternehmens können seitdem die Übernahme des Betriebes ernsthaft in Erwägung ziehen, ohne dafür für verrückt erklärt zu werden. Es gibt zahlreiche Vorbilder. Aktuell arbeiten mehr als 10 000 Menschen in solchen Betrieben. Entsprechend der zentralistischen sozio-ökonomischen Struktur Argentiniens finden sich die allermeisten in der Hauptstadt Buenos Aires oder deren Einzugsgebiet. Am zweithäufigsten trifft man auf das Phänomen allerdings in Rosario, der Geburtsstadt Che Guevaras und Lionel Messis.

In einem Vorort der Stadt in einer ehemaligen Autowerkstatt hat die Kooperative »Union« ihren Sitz. In dem großen, heißen Raum stehen fünf Männer mit freiem Oberkörper und bearbeiten Jeans. Die Textilien werden hier, im Auftrag von Textilkonzernen, mit dem Batikverfahren behandelt oder so bearbeitet, dass sie aussehen, als seien sie bereits abgetragen. Die Arbeiter der Kooperative haben bis 2007 in der Industriewäscherei Virasoro gearbeitet. Nachdem sie sich gewerkschaftlich organisierten und einige Verbesserungen ihrer Arbeitsbedingungen erreichen konnten, eskalierte der Konflikt. Am Ende dieses Arbeitskampfes wurden 70 Arbeiter entlassen. »Wir standen auf schwarzen Listen«, sagt der Mann, denn sie »El Mudo«, den Stummen, nennen.

Mangels Alternativen gründeten sie eine Kooperative und bauten einen neuen Betrieb auf. Heute gehören 20 Personen der Kooperative an. Mit den Einnahmen können sie ihren Lebensunterhalt bestreiten. Begonnen hatten sie einst zu siebt. »Wir haben nur unsere Arbeitsplätze gerettet«, sagt »El Mudo«: »Dies ist kein reaktiviertes Unternehmen.« Genau genommen hat er damit recht, allerdings teilt »Union« die Geschichte vieler reaktivierter Betriebe. In ihrer großen Mehrzahl wurden diese nicht aus Idealismus gegründet, sondern weil ihren Protagonisten keine andere Option mehr blieb, als ihren Arbeitsplatz gegen alle Widerstände zu erhalten. Viele der Lohnabhängigen, die in reaktivierten Unternehmen arbeiten, sind bereits im Rentenalter oder kurz davor. Spezialisten finden sich selten unter ihnen. Zu einigen reaktivierten Unternehmen in Rosario haben die Leute von der Textilkooperative ein gespanntes Verhältnis, denn auch wenn sie ganz ohne staatliche Subventionen nicht auskommen können, so legen sie doch Wert auf eine strukturelle Unabhängigkeit von der Regierung. In anderen Betrieben sieht man dies anders.

Die Produktionsstätte der Kooperative »La Cabaña« liegt im Zentrum der Stadt. Die gleichnamige Firma, die durch die Kooperative im Jahr 2008 reaktiviert wurde, produzierte bereits seit 1944 Milchprodukte. Eine Geschichte, auf die sich nun auch das reaktivierte Unternehmen stolz bezieht. Als 2006 die Produktion eingestellt wurde, besetzten die Arbeiter den Betrieb und verhinderten dadurch, dass der Chef die Maschinen abtransportieren lassen konnte. 15 Tage lang saß ständig eine Wache vor seiner Bürotür, bis er schließlich aufgab und das Feld räumte. Heute arbeiten noch 36 von einst 54 Beschäftigten in dem Betrieb.

Eduardi Ianni, ein etwas älterer, sich gewählt ausdrückender Mann, dem ein seriöses Auftreten wichtig zu sein scheint, ist der Vorsitzende der Kooperative. Früher war er in der Firma als Verkäufer beschäftigt. »Der Prozess der Reaktivierung war traumatisch für uns«, sagt er. »Es waren Schritte ins Unbekannte und wir wussten nicht, was aus uns werden würde. Einige Kollegen haben in dieser Phase aufgegeben.« Eine wichtige Referenzfigur im Prozess der Reaktivierung dieses Betriebes war José Abelli. Der langjährige politische Aktivist verfügt über viele Kenntnisse und zahlreiche Kontakte zu einflussreichen Persönlichkeiten. 2004 gelang es ihm, ein Treffen zwischen Arbeitern eines umkämpften Betriebes und dem damaligen Präsidenten Néstor Kirchner höchstpersönlich zu arrangieren. Kurz darauf wurde der Betrieb der Arbeiterkooperative überlassen. Abelli ist eine Institution in Rosario.

Erfrischender kollektiver und kämpferischer Geist

Es sind solche lokal verankerten charismatischen Führungspersönlichkeiten, die die Mehrzahl der reaktivierten Unternehmen in der Öffentlichkeit repräsentieren. Zwischen ihnen kam es in den letzten elf Jahren immer wieder zu Zerwürfnissen, denn die charismatische Herrschaft legitimiert stets nur einzelne Wortführer. Dies ist eine wesentliche Ursache dafür, dass die Bewegung der reaktivierten Unternehmen auf nationaler Ebene in zahlreiche Dachverbände zersplittert ist. So gehörten die Unternehmen in Rosario erst lange der Bewegung MNER an, dann gründeten sie mit anderen Kooperativen, die diesen Dachverband verlassen hatten, die Föderation FACTA. Aus der traten sie schließlich auch aus, nachdem sie sich mit der Fraktion aus Buenos Aires nicht über die Besetzung der Führungsposten einigen konnten.

Nun will man eine lokale Föderation gründen, der nicht nur reaktivierte Unternehmen angehören sollen, sondern auch Kooperativen mit einer abweichenden Entstehungsgeschichte, wie es zum Beispiel bei der Textilkooperative Union der Fall ist. Von der traditionellen Genossenschaftsbewegung unterscheiden sie sich vor allem darin, dass intern die Vollversammlung und nicht der Vorstand die wesentlichen Entscheidungen trifft. Trotz zahlreicher Widersprüche haben die »empresas recuperadas« mit ihrem kollektiven und kämpferischen Geist die argentinische Kooperativbewegung mit neuem Leben erfüllt. Ein Verdienst, das bleibt.

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