Leben eben

Was von der Leipziger Buchmesse bleibt

  • Martin Hatzius
  • Lesedauer: 5 Min.

Am Ende ist alles, wie es vorher war: Das Messegelände - mit seinem gläsernen Korpus, den halbzylindrischen Gängen und den vier Hallen, in die diese Achsen führen, steht es da wie ein futuristisches Fahrzeug mit eckigen Rädern - leert sich am Sonntagabend in kürzester Zeit. Zigtausende von Büchern, um die sich hier vier Tage lang alles drehte, werden in Kisten und Kästen verstaut und davongefahren. Vorbei sind die Lesungen, Performances und Gespräche auf dem Gelände und im gesamten Stadtgebiet. Dank deren Vielzahl (rund 2800!) kann sich das Live-Programm »Leipzig liest« als »Europas größtes Lesefest« rühmen lassen. Und noch ehe der Schlussgong ertönt, wird, wie fast immer, ein Besucherrekord verkündet: 168 000 waren es diesmal. Etwa zwei Drittel davon kamen freiwillig, ganz ohne äußere Pflicht, um auf dem Jahrmarkt der Worte ihre Runden zu drehen. Der Rest: eifrige Autoren, Buchhändler, Agenten, Lektoren, Verlagsdienstleister, Veranstalter. Und Schulklassen, auf ihrem Projekttag.

Anders als auf der Frankfurter Buchmesse geht es in Leipzig nicht zuerst um den Handel mit Rechten und Lizenzen, um das Anpreisen brancheninterner Dienstleistungen und den Abschluss von Verträgen. Im Mittelpunkt sollen hier die Leser und Leserinnen stehen. Für Veranstalter und Aussteller heißt das vor allem, um Interesse zu buhlen, sei es mit schrillen Kampagnen für das Lesen generell - allerorten sprangen einem in diesem Jahr Plakate mit dem albernen Warnruf: »Vorsicht Buch!« entgegen -, sei es mit Preisverleihungen in diversen Sparten, sei es mit möglichst lautem Getrommel für diesen oder jenen Titel. Wollte man sich für jedes der in Leipzig ausgestellten Bücher auch nur eine Minute Zeit nehmen, müsste man volle zwei Monate in den Messehallen zubringen, ununterbrochen, Tag und Nacht.

Leipzig liest? Ach, mitnichten. Während der Messetage rennt Leipzig, wo es geht, und drängelt, wo es eng wird. Leipzig steht sich die Beine in den Bauch und tritt sich auf die Füße. Leipzig muss im Einbahnstraßensystem durch die Verbindungsröhren geleitet werden, um sich nicht totzutrampeln. Lesen sieht man Leipzig nur am Rande in diesen Tagen. Immerhin: Leipzig hört aufmerksam zu, wo immer eine Autorin, ein Autor ein Buch vorstellt.

Um in solchem Marktgewimmel Wichtiges von Unwichtigem zu scheiden, musste man das Karl-Kraus-Zitat beim Wort nehmen, das am Stand des »BuchMarkt«-Magazins zu lesen war: »In zweifelhaften Fällen entscheide man sich für das Richtige.« So geschah es, und jeder entschied sich also für etwas anderes.

Die Vielfalt der Titel und Themen geht einher mit dem Zwang, sich der Freiheit der Auswahl zu stellen - und mit der stillschweigenden Übereinkunft, dass an keinem Buch etwas schlecht sein kann. Umso verstörender waren die Worte, die Klaus-Michael Bogdal, Träger des diesjährigen Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung, am Auftaktabend im Gewandhaus wählte. Der Literaturwissenschaftler, ausgezeichnet für sein Buch »Europa erfindet die Zigeuner«, eine sorgsam recherchierte Rekonstruktion der Stigmatisierung und Ausgrenzung der Sinti und Roma mittels der Literatur, sprach nämlich von den »Nachtseiten der Kultur«.

»Über das Humane und die humanisierende Wirkung der Kunst«, so der Preisträger, »reden wir gerne und mit einer gewissen Selbstzufriedenheit, wo immer Autoren, Kritiker und Leser zusammenkommen. Ich hingegen wollte etwas sichtbar machen, das ich das ›böse Gedächtnis‹ der Gesellschaft genannt habe.« Sprache, gerade auch literarische Sprache, so Bogdal, offenbare nicht selten ein »ästhetisches Vergnügen am Leiden, der Beschämung, Erniedrigung und Entwürdigung«. Er benennt das Wirken solcher Sprache als »symbolische Gewalt, die man neben die politische, soziale oder physische stellen kann«.

Bogdal hat Quellen aus vielen Jahrhunderten studiert und ausgewertet - um in einer Gegenwart zu enden, die die »alte ausgrenzende Vorstellung« noch immer nicht überwunden habe, »dass es sich bei den Romvölkern um Nicht-Europäer handelt, derer man sich allerorts entledigen sollte«. Im Gegenteil. Das - ausgerechnet in Büchern - durch die Zeit getragene »böse Gedächtnis«, so Bogdal, gewinne »in jüngster Zeit auf erschreckende Weise erneut an Boden«. Ein Wissenschaftler, der sich eines solchen Themas annehme, komme nicht umhin, ins Feld des Politischen vorzustoßen - »dorthin, wo an die Stelle des rationalen Räsonnements Entscheidungen treten, die in das Leben der Menschen eingreifen«.

Dass Literatur in der Lage ist, unmittelbar in das Leben der Menschen einzugreifen und insofern politisch zu werden, war auf der Leipziger Buchmesse zum Glück auch im Positiven zu hören. So, als der indonesische Autor Andrea Hirata davon berichtete, wie sein millionenfach verkaufter und erfolgreich verfilmter Roman »Regenbogentruppe«, der vom Ausgang aus der Armut über den Weg der Bildung erzählt, den Tourismus in der Region ankurbelte, in der er spielt. Vom Geld der Fremden, das nun in die Gegend fließt, so Hirata, profitieren nicht zuletzt jene Kinder, denen seine Romanfiguren nachempfunden sind.

Am Ende ist alles so, wie es war? Nicht ganz. Bücher zu schreiben, zu verlegen, auszustellen, zu vermarkten und zu lesen, heißt nicht nur, den Markt am Laufen zu halten und eine Branche zu ermutigen, die der fortschreitenden Digitalisierung wegen noch immer etwas bange in die Zukunft blickt. Manchmal bedeuten Bücher, im Guten wie im Schlechten, viel mehr. Leben eben.

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