nd-aktuell.de / 22.03.2013 / Kommentare / Seite 4

Waffenstillstand – und dann?

Evrim Sommer plädiert für einen Veränderungsprozess in der Türkei

Evrim Sommer

Seit Anfang des Jahres ist die Entwaffnung der PKK ein zentrales Thema in der türkischen Tagespolitik. Alle türkischen Medien – von links nach rechts - beschäftigen sich mit dieser Frage. Parallel dazu führte der Chef des türkischen Geheimdienstes (MIT) mit dem Vorsitzenden der PKK Abdullah Öcalan Gespräche über eine Entwaffnung der in den Bergen kämpfenden Guerillas. Öcalan wurde 1999 von Geheimdienstagenten aus Kenia in die Türkei entführt. Seitdem befindet er sich auf der Insel Imrali in Haft. Nun hat er zum kurdischen Neujahrsfest Newroz per Videobotschaft zum Waffenstillstand aufgerufen.

Der 21. März 2013 scheint ein historisches Datum zu werden. Seit 30 Jahren tobt in der Türkei ein blutiger Bürgerkrieg. 1984 rief die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zum bewaffneten Widerstand gegen das türkische Regime auf. Seither kämpfen Guerillas im Osten der Türkei gegen den türkischen Staat. Das türkische Militär antwortet mit massiver Gewalt, sowohl gegen die Guerillas als auch gegen die zivile Bevölkerung. Dieser Bürgerkrieg hat bisher bereits 40.000 Menschen das Leben gekostet.

Die Kurdenfrage wurde lange Zeit nur als eine Angelegenheit des türkischen Militärs betrachtet und offiziell als Terrorismus abgetan. Noch heute spricht der türkische Premierminister Erdogan davon, dass es in der Türkei kein Kurden-, sondern ein Terrorproblem gebe. Und dennoch will er es lösen. Er hat sogar öffentlich erklärt, dass von der Lösung dieses Problems seine politische Zukunft abhängt. Das hat es in der Geschichte der Türkei noch nicht gegeben. Doch meint er es wirklich ernst?

Seit zehn Jahren regiert die AKP, die Partei von Premierminister Erdogan, die Türkei. Er hat des Öfteren bei Besuchen in der kurdischen Metropole Diyarbakir verlauten lassen, dass er das Blutvergießen auf beiden Seiten beenden will. Jedoch sind seinen Worten nie Taten gefolgt. Nach wie vor werden kurdische Politiker, Journalisten und Studenten inhaftiert und nach den Antiterrorgesetzen zu langen Haftstrafen verurteilt.

Bereits seit Jahren schwebt Erdogan die Vision der Großmacht Türkei nach dem Vorbild des Osmanischen Reiches vor. Die Türkei soll muslimischer Musterstaat und Hauptmacht im Nahen Osten werden. Durch dem Krieg in Irak rückten diese Träume näher. Nach dem Arabischen Frühling ist er nun zum Greifen nahe. Die geostrategische Machtstellung der Türkei im Nahen Osten ist für Erdogan und seine Partei ein Primat der Außenpolitik. Deshalb hat die Türkei sich von Anfang an auch am Syrienkrieg beteiligt.

Doch mit dem Wandel der arabischen Welt kam ein zweiter Wandel. Die kurdischen Minderheiten in Irak und Syrien haben immer stärker an Macht gewonnen und sind zu einer bedeutenden politischen Kraft aufgestiegen. Das autonome Kurdengebiet in Nordirak wird mittlerweile als das neue Dubai bezeichnet. In Syrien haben kurdische Rebellen die Macht über große Gebiete übernommen. Die neue Macht der Kurden durchkreuzt nun die Pläne des türkischen Premiers. Und so ist er gezwungen, auch die Kurdenfrage im eigenen Land zu lösen oder zumindest den militärischen Konflikt beizulegen.

Doch das ist nicht so einfach, denn das Problem liegt nicht in den Kurdengebieten im Osten der Türkei, sondern ist verwurzelt im politischen System des Landes. Die Türkei wurde 1923 mit Blut zu einer Nation geschmiedet. Alle Menschen dort waren nun Türken. Es gab eine Sprache, eine Religion und eine Nation. Das war das Gegenmodell zum osmanischen Vielvölkerstaat, dessen Fundament die Vielfalt der Kulturen war. Somit wurde in der Türkei alles unterdrückt und vernichtet, was dem Modell der nationalen Monokultur widersprach. Aus Kurden wurden Bergtürken. Die kurdische Sprache und kurdische Namen wurden verboten. Städte wurden umbenannt. Die Geschichte wurde komplett umgeschrieben und die kurdische Kultur bereinigt.

Angesichts dessen stellt sich die Frage, welche Bedeutung die Gespräche mit Öcalan überhaupt haben können und was seine Videobotschaft bringt. In der Tat hegen viele Menschen große Hoffnungen, dass das Blutvergießen ein Ende hat. Doch ein einseitiger Waffenstillstand kann nur der Beginn eines Veränderungsprozesses sein. Nun ist die türkische Regierung am Zug. Auch sie muss zunächst die Waffen schweigen lassen. Dann muss die Kurdenfrage auf die politische Agenda gesetzt, tiefgreifende Veränderungen im politischen System der Türkei müssen vorgenommen werden. Die Rechte der Kurden müssen in der Verfassung verankert werden. Aber nicht nur die Rechte der Kurden, sondern aller Minderheiten in der Türkei. Die Demokratie muss überhaupt erst einmal etabliert werden.

Es ist eine gewaltige Chance für die kulturelle Vielfalt der Türkei, für die Demokratie und für die Menschenrechte. Eine demokratische und föderalistische Türkei kann in der Tat ein Modell für den gesamten Nahen Osten sein. Doch ob Erdogan dies will, ist überaus fraglich. Er träumt von seiner neuen islamischen Großmacht im Nahen Osten.