Tanz der Botenstoffe

Eine Selbsthilfegruppe im Berliner Südosten gibt Parkinson-Patienten Halt

  • Silvia Ottow
  • Lesedauer: 5 Min.

Glaubt man den Angaben der Hersteller, dann verbessern spezielle Einlagen in Schuhen die Bewegungskoordination und Körperaufrichtung, lindern Schmerzen, erhöhen die Mobilität und verbessern die motorische Funktion. Das alles wäre für Parkinson-Patienten durchaus hilfreich, denn eines der Symptome dieser zweithäufigsten neurologischen Erkrankung des Alters sind Einschränkungen der Beweglichkeit sowie Gang- und Standunsicherheit. Stürze sind programmiert, und jeder Betroffene wäre glücklich über ein Hilfsmittel, welches diese Risiken minimieren könnte. Ob das allerdings die Einlagen leisten können?

Der 79-jährige Rolf Appenfelder, der die Parkinson-Selbsthilfegruppe im Berliner Stadtbezirk Treptow-Köpenick seit acht Jahren leitet, hat überall herumgefragt. Er fand heraus, dass die beabsichtigte Wirkungsweise der Schuheinlagen auf den Prinzipien der chinesischen Medizin beruht. Dieser zufolge enthalten die oberen Spitzen aller Zehen Reflexzonen, welche mit dem Gehirn verbunden sind und hier einwirken, wenn sie entsprechend stimuliert werden. Appenfelder ist skeptisch. Sein Fazit: »Es ist ein großes Wagnis, über 300 Euro für die Einlagen auszugeben.« Aber entscheiden müsse natürlich jeder Betroffene selbst. Bei der Parkinson-Matratze ist er sich dagegen sicher: »Das ist rausgeschmissenes Geld.«

Einlagen und Matratzen sind jedoch nicht Rolf Appenfelders wichtigstes Thema an diesem Dienstag in der Villa Offensiv im Berliner Stadtbezirk Treptow-Köpenick. Wie es seine Art ist, hat er sich gewissenhaft auf das Thema Schlafstörungen bei Parkinson vorbereitet. Der 79-Jährige mit den markanten Falten quer über die Stirn hat diese Krankheit. Die Frauen und Männer der Selbsthilfegruppe, die sich hier einmal im Monat mit ihm treffen, hören ihm aufmerksam zu. Sie haben entweder selbst die Krankheit oder betreuen einen Angehörigen mit dem Syndrom. Sie kommen zusammen, um Probleme miteinander zu besprechen oder Informationen auszutauschen, die sie anderswo nicht bekommen können. Die sensomotorischen Schuheinlagen sind so ein Problem.

Es ist jetzt 13 Jahre her, da machte Ingrid Appenfelder ihren Mann auf einen Artikel über das Parkinson-Syndrom in einer Zeitschrift aufmerksam. Darin hatte sie einiges gelesen, was sie bei ihrem Rolf auch schon beobachtet zu haben glaubte: das plötzliche Zittern einer Hand im Ruhezustand, Riechstörungen, die immer kleiner werdende Handschrift. Es begann eine über vierjährige Odyssee des Mannes von einem Neurologen zum anderen. Einer bestätigte ihm schriftlich, dass er keinerlei Symptome des Morbus Parkinson zeige. Doch eine Computertomografie in der Berliner Charité brachte letztlich die Gewissheit, dass es sich doch um die gefürchtete Krankheit handelte. Das war ein Einschnitt in seinem Leben, erinnert sich Rolf Appenfelder. Geholfen hätten ihm damals vor allem die Selbsthilfegruppe, der er sich bereits vorher angeschlossen hatte, sowie die Unterstützung der Familie und der Freunde.

Und vermutlich auch die ihm eigene besondere Akribie, mit der er sich fortan der ganz persönlichen Erforschung seines Zustandes widmete und versuchte, alles in Erfahrung zu bringen, was damit im Zusammenhang steht - übrigens ohne Internet, Mailadresse oder Fax. Rolf Appenfelder studierte Fachbücher und die Veröffentlichungen der Parkinsongesellschaft. Er kennt sämtliche Broschüren, telefoniert mit Spezialisten, notiert alle Neben- und Wechselwirkungen der Medikamente, die ihm zu Ohren kommen, fährt zu Weiterbildungen und schreibt den lieben, langen Tag: Briefe, Fragen, Abhandlungen, detaillierte Vorbereitungen auf die beiden monatlichen Zusammenkünfte der Selbsthilfegruppe.

Es gibt kaum etwas Neues im Zusammenhang mit der Krankheit, von dem Appenfelder noch nichts gehört hätte. »Ich möchte den betroffenen Menschen eine positive Grundhaltung zu der Erkrankung vermitteln«, sagt er. Was ein bisschen pathetisch klingt, wird greifbar, wenn man ihn kennen lernt. Er lebt selbst vor, was er sagt.

Um fünf Uhr morgens kann er nicht mehr schlafen, dann setzt er sich an seinen kleinen, perfekt unters Fenster gebastelten Schreibtisch. Hier bewahrt er das über die Jahre zusammen getragene Parkinson-Wissen auf, nach Stichworten sortiert und die wichtigsten Stellen mit Textmarkern gekennzeichnet - bereit für den Abruf, wenn ihm jemand am Telefon eine Frage stellt oder an der Haustür klingelt. Und das passiert nicht etwa selten, wie Ingrid Appenfelder bestätigt. Ihr Mann lege Wert darauf, dass keiner mit seinem Problem allein gelassen wird - egal ob er Mitglied der Selbsthilfegruppe ist oder nicht.

In gewisser Weise übernimmt Rolf Appenfelders Sammlung für das Leben zahlreicher erkrankter Menschen die Funktion des Botenstoffes Dopamin, der im menschlichen Gehirn unter anderem für die Signalübermittlung verantwortlich ist. Der Mensch braucht das mit der Bezeichnung Glückshormon nur unzulänglich beschriebene Dopamin beispielsweise, um eine Bewegung zu planen und durchzuführen. Auch Appenfelders Informationen bewirken Bewegung beim Parkinson-Kranken, im wörtlichen und im übertragenen Sinn.

Bei Parkinson sterben in der Substantia nigra, der schwarzen Gehirnsubstanz des Betroffenen, genau die Nervenzellen, die den Botenstoff Dopamin produzieren. Einige andere Botenstoffe - in der Medizin Neurotransmitter genannt - gewinnen die Überhand. Dieses Auf und Ab der Botenstoffe wie beim Tanz ist mit nervlichen Beeinträchtigungen verbunden. So bleibt ein Erkrankter plötzlich stehen, weil sein Körper nicht weiß, wie der nächste Schritt gemacht werden kann oder er wagt es nicht, eine ganz normal große Tür zu durchschreiten, weil sein Gehirn ihm stattdessen einen engen Spalt vorgaukelt. Mit Medikamenten kann dieses Ungleichgewicht der Botenstoffe über einige Jahre ausgeglichen werden.

In die Selbsthilfegruppe kommen oft Angehörige von Parkinson-Kranken. Sie sind dankbar für moralischen Zuspruch und für Tipps, was bei Schlaflosigkeit oder Depressionen helfen könnte. »Ärzte haben doch für solche Beratung gar keine Zeit mehr«, sagt eine Frau, deren erkrankter Mann zum Treffen der Gruppe nicht mehr mit kommen kann.

Rolf Appenfelders Gruppe ist inzwischen so gewachsen, dass sie sich auf zwei Termine aufspalten musste. Das vergrößert sein Arbeitspensum, aber darüber ist er eher froh. Der Mann sorgt sich um jeden, der den sozialen Rückzug antritt und sich in eine selbstgewählte Einsamkeit und Isolation begibt. Er ist fest davon überzeugt, dass die Gruppe dem Einzelnen helfen kann. Als er in einem Informationsblatt aus dem Bundesgesundheitsministerium lesen musste, dass Selbsthilfegruppen künftig jährlich mit zehn Cent pro Versicherten unterstützt werden sollen, hielt er diese Summe zunächst für einen Druckfehler. Auf seine Gruppe umgerechnet wären das sieben Euro pro Jahr. Das reicht gerade mal, um jedem Mitglied zwei Kopien wichtiger Papiere mitzugeben.

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