Ohnmenschlichkeit

Von Migranten-Schicksalen gezeichnete Orte - Ausstellung der Fotografin Eva Leitolf in Hannover

  • Hagen Jung, Hannover
  • Lesedauer: 4 Min.
Wie reagiert die Gesellschaft auf Migranten? Wie gehen Staaten der EU mit ihren Außengrenzen, mit Flüchtlingen um? Mögliche Antworten auf diese Fragen geben Fotografien von Eva Leitolf, die zurzeit im Sprengel-Museum in Hannover zu sehen sind.

Fragen an die Gesellschaft hat die 1966 in Würzburg geborene Eva Leitolf schon in früheren Projekten gestellt. Etwa mit ihren Fotografien, die in Namibia entstanden und die Betrachter daran zweifeln lassen, dass aus der früheren deutschen Kolonie Südwestafrika aller deutscher (Un-)Geist mittlerweile verschwunden sein könnte. Bilder von Schützenfest, Karnevalsspektakel oder von der »Farm Spandau« bedürfen ebenso wenig kommentierender Untertexte wie die Aufnahme der Reichskriegsflagge. Vor dem schwarz-weiß-roten Tuch hat sie strammstehende Deutsche beobachtet, berichtete Eva Leitolf, während der Eröffnung ihrer aktuellen Ausstellung auf vergangene Arbeiten rückblickend.

Tatorte erschließen sich erst auf zweiten Blick

»Postcards from Europe« hat die Künstlerin ihre neue Präsentation betitelt. Sie zeigt, wie weit Europa von einer »Willkommenskultur« entfernt ist. Tatorte sind im Sprengel-Museum zu sehen, Lokalitäten, an denen flüchtenden oder geflohenen Menschen Böses geschah. Ein verwandtes Thema hatte Eva Leitolf bereits vor wenigen Jahren aufgegriffen, als sie Schauplätze rassistischer Übergriffe in Deutschland ins fotografische Visier nahm. Für die »Postcards« hat sie ihren Arbeitsradius ausgeweitet, hat Reisen nach Spanien, Ungarn, Frankreich und Italien unternommen. Was sie Postcards nennt, sind zum einen großformatige Bilder, zum anderen die neben jedem Foto liegenden Postkarten im vertrauten Format. Diese »richtigen« Postkarten beschränken sich auf einen Text. So entsteht ein Dialog von Kunst und Journalismus, aus Gesehenem und Gelesenem. Aus ihm erschließt sich die Botschaft der Bilder, wird bewusst, dass sie mehr sind als das fotografisch gekonnte Einfangen einer Stadtszene, einer Landschaft, eines Gebäudes.

Die Aufnahme eines italienischen Meeresstrandes etwa lädt beim ersten Blick ein zum - vielleicht sogar wohligen - Nachsinnen über Weite, Erholung, Ruhe. Doch diese ist abrupt gestört, wenn die Postkarte zur Hand genommen wird, die vermeldet: Hier wurden erst mehrere Schuhe angespült, dann 17 Leichen. Flüchtlinge aus Ägypten und Palästina, ertrunken. Nicht minder scharf durchbrochen durch den Kartentext wird auf einem weiteren Bild aus Italien die Idylle einer Orangenplantage in Rosarno: Jugendliche haben dort mit Luftgewehren auf schwarze Erntearbeiter geschossen, und auf die Unterkünfte der zumeist illegal beschäftigten Afrikaner und Osteuropäer wurden Brandanschläge verübt. Rund 800 afrikanische Migranten wurden »unter Zuschauerapplaus« aus Rosarno in Notunterkünfte abtransportiert.

Durchaus nicht alle Fotos vermitteln beim ersten Betrachten idyllische Atmosphäre. So manche Aufnahme ist vielmehr verstörend, macht unsicher, wie das Bild eines öden Zughaltepunktes in Griechenland. Tiefe Finsternis dominiert, die einzige Lichtquelle, eine Lampe am Mast, blendet mehr, als dass sie erhellt. Dort waren Migranten aus der Türkei aufgegriffen worden, dort verhinderten griechische Grenzpolizisten das Weiterleiten von Asylanträgen. Die Flüchtlinge wurden umgehend abgeschoben oder in überfüllte Lager gebracht.

Einige Werke geben Rätsel auf, so die Ansicht eines Haufens aus hölzernen Leitern, fotografiert in der spanischen Exklave Melilla an der marokkanischen Küste. Die Lösung: Hier versuchten Hunderte von Flüchtlingen, mit selbst gebauten Leitern den Grenzzaun zu überwinden. Laut Zeugenaussagen setzte die spanische Guardia Civil elektrische Keulen, Tränengas, Gummigeschosse und scharfe Munition ein. Mindestens 14 Menschen starben an der messerscharfen Grenzzaun-Bewehrung oder wurden - nach Darstellung der spanischen Regierung - von marokkanischen Soldaten erschossen.

Die »Postcards from Europe« sind menschenleer. Das kann ein Hinweis darauf sein, dass Menschlichkeit gefehlt hat oder unterlegen war an den jeweiligen Orten. Und auch Zeichen dafür, dass Menschen - »andere« Menschen - hier nicht willkommen waren und sind. Wie am Fährhafen von Igoumenitsa in Griechenland, wo Eva Leitolf auf ein Schiff wartete, den Anleger fotografierte und miterlebte, wie mehrere Hundert Einwohner gegen die »Belagerung durch die Illegalen« protestierten. Während der Demonstration beschoss die griechische Polizei mehrere Stunden lang Migranten und deren selbst gebaute Unterkünfte mit Reizgasgranaten.

Verstören statt manipulieren

Was will Eva Leitolf mit ihren Postcards erreichen? Will sie dokumentieren, verbessern, inspirieren - und hat sie durch ihre Arbeiten schon »zu etwas anregen können«? So von Besuchern der Eröffnung gefragt, bleibt die Künstlerin eher zurückhaltend, bescheiden. »Manipulative Strategien« verfolge sie nicht. Und das klingt nicht nur, das ist glaubhaft, denn: Keines der Bilder ist auf Dramatik ausgelegt, auf Effekt, auf Sentiment oder Erschrecken. Gedanken an das Schicksal der Migranten, eigene Assoziationen, das mag sich erst einstellen in der kombinierten Wahrnehmung aus Bild und Geschriebenem, das - allein stehend - in seiner Nachrichtlichkeit nüchtern erscheint.

Eva Leitolfs Wirken hat Kontinuität, widmet sie sich doch in einem noch wachsenden Projekt namens »Clearing« erneut Migranten: unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen in »Erstaufnahmestellen«. Die - wieder menschenlosen - Fotos gewähren Einblicke in die schlichten Behausungen der Jugendlichen, die dort versuchen, Andeutungen von Individualität zu hinterlassen, Spuren für nachrückende Schicksalsgefährten.

Die Ausstellung ist bis 4. August in Hannover zu sehen. Das Sprengel-Museum am Kurt-Schwitters-Platz ist dienstags von 10 bis 20 Uhr und mittwochs bis sonntags von 10 bis 18 Uhr geöffnet.

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