nd-aktuell.de / 09.04.2013 / In Bewegung / Seite 1

»Dass so etwas rechtlich möglich ist, verblüfft mich«

RZ-Prozess: Beobachterin aus Frankreich kritisiert Gerichtsverhandlung in Frankfurt am Main

Die 22. Strafkammer des Landgerichts Frankfurt am Main verhandelt seit September 2012 gegen zwei vermeintliche Mitglieder der Revolutionären Zellen (RZ), die in den 1970er Jahren an politischen Anschlägen beteiligt gewesen sein sollen. Im Publikum sitzen meistens auch Prozessbeobachterinnen und -beobachter aus Frankreich. Janie Lacoste ist Mitglied der französischen Gruppe gegen Auslieferungen »Stop extraditions«, in der sich Menschen mit unterschiedlicher Geschichte und aus verschiedenen politischen Strömungen zusammengefunden haben. Mit ihr sprach Niels Seibert.

nd: Was motiviert Sie, regelmäßig so lange Fahrten auf sich zu nehmen, um einen Prozess in Deutschland zu besuchen?
Lacoste: Ich habe die beiden Angeklagten Sonja Suder und Christian Gauger im Jahr 2000 in Frankreich kennengelernt, wo sie seit 1978 gelebt haben. Im Februar 2000 wurden sie verhaftet und unser Unterstützungskollektiv hat das Auslieferungsverfahren begleitet. Das Verfahren wurde 2001 mit der gerichtlichen Entscheidung abgeschlossen, dass die beiden nicht abgeschoben werden können, weil sie in Deutschland für Taten verfolgt werden, die nach französischem Recht verjährt sind. Sonja und Christian bezogen damals eine kleine Wohnung in einem Pariser Vorort, in der sie die ganze Zeit gewohnt haben. Zwischen ihnen und uns sind freundschaftliche Beziehungen entstanden.

Warum wurden Suder und Gauger 2011 dennoch nach Deutschland ausgeliefert?
Ende 2008 wurde ein neues Auslieferungsverfahren eröffnet, obwohl es keine neuen Tatbestände gab. Wir haben damals in Erfahrung gebracht, dass sich dieses Verfahren auf ein französisch-deutsches Abkommen von 2005 stützte, das rückwirkende Kraft hat. Demnach wurden die Rechtsvorschriften des Staates, der die Auslieferung beantragt, vorrangig. Sonja Suder und Christian Gauger konnten also ausgeliefert werden, da einige Taten nach deutschem Recht nicht verjährt waren. Im Juli 2009 unterzeichnete François Fillon, Premierminister unter Präsident Sarkozy, die Auslieferungsverfügung.
In dieser Zeit gab es in Frankreich viele Initiativen von Anwälten, sozialen Bewegungen und Persönlichkeiten der Zivilgesellschaft, um diese Justiz- und Polizeimaschinerie zwischen den beiden Staaten zu stoppen. Es ging dabei auch um die Einhaltung rechtlicher Prinzipien, mit denen das Recht traditionsgemäß seiner Macht Grenzen gesetzt hat: Rückwirkungsverbot, Einhaltung einer angemessenen Zeit für einen gerechten Prozess, Verjährung, Amnestie.

Hat Sie die Auslieferung überrascht?
Die Auslieferung am 21. September 2011 war ein Schock für uns. Christian Gauger wurde im Krankenwagen abtransportiert, Sonja sitzt seitdem in Deutschland in Haft, obwohl es offensichtlich war, dass sie sich der Justiz weder entziehen konnte noch wollte. Nicht zuletzt der Prozessverlauf vor dem Frankfurter Gericht stärkt Tag für Tag unseren Willen, an ihrer Seite zu sein.

Welchen Eindruck haben Sie von dem Prozess?
Wir verstehen nicht, dass die deutsche Justiz die Aussagen von Hermann F., die unter erschreckenden, folterähnlichen Bedingungen zustande kamen, 35 Jahre danach als verwendbar anerkennt. Nachdem er beide Augen bei einer Explosion verloren hatte und seine Beine amputiert worden waren – 24 Stunden nach dem Unfall – begannen die Verhöre von Hermann F. Sie wurden mehr als vier Monate lang unter Bedingungen fortgesetzt, die es ihm nicht erlaubten, seinen freien Willen auszuüben.
Die Weigerung des Gerichts, im Lichte aktueller Erkenntnisse der Medizin über posttraumatische Belastungsstörungen, die Relevanz und die moralische Legitimität dieser Verhöre erneut zu überprüfen, ist für mich unfassbar. Und zwar um so mehr, als Hermann F. seit 1979 erklärt, dass er sich in diesen Aussagen nicht wiedererkennt und ihrer juristischer Verwendung widerspricht.
Beim anderen Teil der Anklage gegen Sonja Suder, die Geiselnahme von Ministern der OPEC in Wien 1975, beruhen die Vorwürfe ausschließlich auf der Denunziation durch einen Kronzeugen. Wie ist so etwas in Deutschland rechtlich möglich? Wo sind die Beweise? Wo die Übereinstimmungen mit anderen Zeugenaussagen?
Die belastenden »Erinnerungen« des Kronzeugen Hans-Joachim Klein ändern sich ständig, von Aussage zu Aussage. Der Vorsitzenden Richterin fiel das zwar auf, aber als sie die vorläufige Freilassung von Sonja Suder abgelehnt hat, hat sie mit ihrer Überzeugung argumentiert, dass es in Kleins Aussagen eine graduelle Annäherung an die Wahrheit gebe. Eine solche Voreingenommenheit verblüfft mich.

Wie ist es, einen Prozess zu beobachten, dessen Sprache man nicht gut versteht?
Während der Verhandlung bekomme ich vom Inhalt der Erklärungen nur wenig mit, auch wenn meine Freunde mir das Wesentliche flüsternd übersetzen. Deshalb bin ich umso aufmerksamer gegenüber dem Verhalten der Richter, Schöffen, Staatsanwälte, Anwälte und Angeklagten. So bin ich erschüttert über die systematische Taubheit der Vorsitzenden Richterin gegenüber allen Anträgen der Anwälte und über die vielen Unterbrechungen der Verhandlung, bei denen sie eine schroffe, systematisch negative Antwort ausarbeitet.
Dieser »Verhandlungssaal« trägt seinen Namen zu Unrecht. Dort kann sich kein Dialog entwickeln. Dort fehlt ein Richter, der seinen Platz ganz unparteiisch einnimmt, der gegenüber der Verteidigung genauso aufmerksam ist wie gegenüber der Anklage und dem, was sie an Beweisen oder begründeten Zweifeln vorbringen.

Ist Ihnen etwas aufgefallen, was andere nicht bemerkten?
Ich bin besonders sensibel gegenüber einem Aspekt dieses Prozesses, der mir bedeutungsschwer erscheint: das Auge in Auge zwischen zwei Frauen, der Vorsitzenden Richterin Stock und Sonja Suder.
Sonja Suder ist 80 Jahre alt. Sie hat alle Stürme der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts erlebt – ihre Kindheit unter dem Nazismus, die Flucht aus der DDR mit ihrer Mutter, ihr Weg durch die 70er Jahre und das Exil. Ihr Schweigen vor Gericht zeugt von der Authentizität ihres Lebenslaufs. Und trotzdem kann man ihre Aufmerksamkeit, ihre Zärtlichkeit und ihre Würde wahrnehmen.
Ihr gegenüber die Richterin. Sie ist eingeschlossen in die Blase ihrer institutionellen Macht. Sie erkennt nur Aussagen und Denunziationen als real an und schenkt weder den Bedingungen Beachtung, unter denen sie zustande kamen, noch berücksichtigt sie die Zeit, die inzwischen vergangen ist, was die Zeugenaussagen nur noch fraglicher und weniger nachprüfbar macht. Der totale Mangel an objektiven Beweisen scheint sie überhaupt nicht zu stören. Es macht mich sprachlos, dass sie Sonja Suder nie anschaut, dass sie sich der Präsenz dieser Frau entzieht, die sie schon mindestens zwei Jahre in Untersuchungshaft festhält und damit schon vor Prozessende verurteilt hat.