Hoch lebe die Schuldvermutung

MEDIENgedanken: Über journalistische Hobbyjuristerei

  • Harald Kretzschmar
  • Lesedauer: 4 Min.

Man nennt es das juristische Prinzip der Unschuldsvermutung. In der Öffentlichkeit darf niemand schlecht geredet werden, ehe er nicht mit einem rechtskräftigen Gerichtsurteil schuldig gesprochen wurde. Das ist ein seit Jahrhunderten gültiges edles Prinzip. Die Medien haben jedoch seit jeher ein ambivalentes Verhältnis dazu. Zähneknirschend fügen sie sich. Zum Ausgleich produzieren sie sich als Ermittlungsbehörde. Juristen sehen verwundert, wie dann Lappalien aufgebauscht werden. Unter medialem Trommelfeuer ist schon mancher auf diese Weise Belastete in die Knie gegangen. So unappetitlich der Casus Wulff oder die Casa Schavan gewesen sein mögen, plötzlich waren sie ganz ohne Justiz zu Ende und die Betroffenen zur Strecke gebracht.

Die noch nicht justitiablen, aber immerhin anrüchigen Fälle sind willkommenes Medienfutter. Außerdem ist es ja möglich, jederzeit ins andere Extrem zu verfallen. Prickelnde Lust verleitet dazu, Schwerverbrechern wohlwollende Aufmerksamkeit zu schenken. Unter Umständen gehen sie noch jahrelang als »mutmaßliche Täter« durch. Das Pressegesetz will es so - die Worthülse ist selbst dann aufrechtzuerhalten, wenn eine so grauenvolle Tat wie der Brejviksche Massenmord ganz offensichtlich unter aller Augen stattgefunden hat.

Doch das Problem geht weiter: Das Verführerische an der Unschuldsvermutung liegt darin, wieweit man diese ausdehnen oder gar auf andere Lebensbereiche ausweiten kann. Man referiert brisante Skandale, vermeidet jedoch, Verantwortliche beim Namen zu nennen. Die Finanzkrise im Ganzen und Geldmanipulationen im Einzelnen, ja. Die Personen der Politik sind selbstverständlich vogelfrei. Die der Finanzwirtschaft sind medial weniger angreifbar. Aber bitte sehr: Da muss zunächst Unschuld vermutet werden. Die dort leider obwaltenden Marktgesetze gelten für unsereins als undurchschaubar. Und bitte sehr: Profit? Was ist gegen ein gewisses ganz solides Gewinnstreben zu sagen? Das ist inzwischen medial so populär gemacht, da darf man beim Publikum auf Nachsicht bauen.

Jenseits dessen gibt es die außer Rand und Band geratenen Donnerschläge. Zum Beispiel das vermeintliche Naturereignis einer Pleite. Da flammt die tradierte Gier nach der Sensation hell auf. Der innerhalb von Redaktionen aufgepeitschte Konkurrenzkampf jeder gegen jeden facht sie zu flammender Anklage an. Berichtende und beurteilende Reporter müssen entscheiden, wen sie anzählen, und wen nicht. Zwischen dem, was ihre Auftraggeber vorgeben, und dem, was ihrem Publikum zuzumuten ist, klafft ein fataler Spagat. Sollen sie in den Himmel erheben, oder sollen sie verdammen? Das ist die Frage. Die Lösung: Irgendeiner (wer?) gibt den Trend vor, und (fast) alle stimmen zu.

Die berüchtigten Zensoren der Diktatur wurden aus dem Verkehr gezogen. Rätselhaft, wie glatt heute alles ohne ihre Direktiven abläuft. Wie schnell ist eine Wortwahl festgelegt, wer in kriegerischen Verwicklungen Terrorist oder Aufrührer, was ein Anschlag oder was eine Heldentat ist. Für die Guten gilt die Vermutung redlicher Motive, für die anderen gibt es die Gewissheit der bösen Absicht. Das Freund-Feind-Denken erübrigt dann im Grunde jegliche Analyse der konkreten Situation. Munter wird über Facebook solcherart Radikalisierung vorangetrieben. Wo im Wettkampf friedfertige Gegner sich messen könnten, herrscht in den meisten Computerspielen Mord und Totschlag. Im Ergebnis gestehen Halbwüchsige strahlenden Auges ihre allerliebste Beschäftigung: Töten. (Der wohlwollende Erwachsene weiß natürlich einzuschränken: virtuell) Kommen deshalb Schuld oder Unschuld im ach so kindlichen Denken gar nicht mehr vor?

Weit gefehlt. Im Gegenteil - das Beschuldigen hat Hochkonjunktur. Der geringfügigste Anlass genügt, etwas übel zu nehmen. Ob nun im persönlichen Leben oder in der Beziehung von Völkern zu᠆einander, das Suchen und Finden eines Schuldigen für etwas ist Volkssport. Jenseits jeder Unschuldsvermutung wird dann nur kalkuliert, wie man unbeschadet (also ohne eigenen Schaden) andere zu Fall bringt. Da zeitigt modernes Freund-Feind-Denken ganz neue Methoden. Aus der Luft persönlich unerkannt zuzuschlagen, ist da sehr beliebt. Ob nun gezielter Angriff mit Drohne oder Luftschlag mit Bomben, jederzeit kann man seine Hände in Unschuld waschen. Also: Unentwegt möchte man vermuten lassen, man sei unschuldig.

Die höchste Form des tatsächlichen Unschuldigseins ist das im eigenen Interesse liegende Fehlverhalten anderer. Wie wunderschön, wenn man von anderen sagen kann - schön dumm, worauf ihr euch da eingelassen habt. Wir hätten euch ja beizeiten darauf aufmerksam machen können: Was ihr da falsch macht. Dass wir euch eines Tages diese Zusammenarbeit mit eurem statt mit unserem Geheimdienst zum Vorwurf machen würden. Aber wieso denn eigentlich? Wir mussten eurem Geheimdienst ja zubilligen, er handele rechtens. Das Unrechtsystem haben wir erst entdeckt, als wir es euch zum Vorwurf machen konnten.

Ja, so jongliert der Kundige mit eigener Unschuld und fremder Schuld. Ein Spiel ist das. Ein Schalk, wer Arges dabei denkt. Hauptsache ist immer, die Medien spielen da mit. Das beste Spiel ist das, die Medien als linkslastig und Werkzeug naiver übelwollender Gutmenschen zu beschimpfen, und sich ihrer gleichzeitig zu bedienen. In aller Unschuld wird man schließlich noch zum eigenen Vorteil arbeiten dürfen. Oder noch besser - arbeiten lassen dürfen.

Der Autor ist Zeichner, Buchautor und nd-Karikaturist

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