Skurrile Hypothese

Hat Marx sich seinen Doktortitel erschlichen?

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 2 Min.

Schon in früheren Zeiten waren viele Menschen versessen darauf, ihren Namen mit einem Doktortitel zu schmücken. Allerdings wollten nicht alle die dafür notwendigen Mühen auf sich nehmen. Und das mussten sie auch gar nicht. Denn vom 16. bis 18. Jahrhundert war es durchaus üblich und keineswegs anrüchig, sagt der Wiener Historiker Ulrich Rasche, dass schlecht besoldete Professoren gegen eine entsprechende Bezahlung die Doktorarbeiten ihrer Kandidaten verfassten. Zudem konnten diese an mehreren Universitäten »in absentia« (in Abwesenheit) promovieren. Das heißt: Es blieb ihnen normalerweise erspart, zu einer mündlichen Prüfung (Disputation) zu erscheinen und ihre Doktorthesen auf Latein zu verteidigen.

Im 19. Jahrhundert war vor allem eine Alma Mater bekannt dafür, solche Verfahren durchzuführen: die Universität Jena, deren Philosophische Fakultät zwischen 1832 und 1865 über 1800 Doktortitel vergab. Zum Vergleich: Die deutlich größere Philosophische Fakultät der Berliner Universität brachte es im selben Zeitraum nur auf rund 370 Promotionen.

Bekanntlich reichte auch Karl Marx seine Dissertation zur »Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie« nicht in Berlin ein, wo der von ihm verehrte Hegel zunehmend in die Kritik geraten war, sondern in Jena und erhielt am 15. April 1841 die Doktorwürde. Die Arbeit selbst, so stellte der Dekan der Jenaer Philosophischen Fakultät seinerzeit fest, zeuge von viel »Geist und Scharfsinn« sowie der Belesenheit ihres Verfassers. Im Gegensatz dazu behauptet jetzt das digitale Wissenschaftsmagazin »spektrum.de«, Marx habe, als er Jena wählte, die Anstrengungen einer echten Promotion in Berlin gescheut und sich seinen »Schmalspurtitel« gewissermaßen erkauft.

Nun soll hier gar nicht bestritten werden, dass wohlhabende Studenten die inzwischen abgeschaffte »Promotion in absentia« früher häufig missbrauchten, um leicht an einen Doktortitel zu gelangen. Im Fall Marx ist eine solche Annahme allerdings schlicht lächerlich. Gegen die Unterstellung, dieser habe eine Schmalspur-Dissertation vorgelegt, spricht schon der Text seiner Dissertationsschrift, einer philosophiehistorischen Studie über die griechische Atomistik, die nicht nur Marxisten bis heute schätzen. Übrigens: Auch der berühmte Mathematiker Carl Friedrich Gauß wurde »in absentia« promoviert - 1799 an der Universität Helmstedt. Doch vermutlich käme hier niemand auf die Idee, ihm deswegen irgendwelche unlauteren Motive zu unterstellen.

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