Mit 66 Jahren, da fängt das Leben an?

  • Lesedauer: 4 Min.

»Mit 66 Jahren, da fängt das Leben an«, singt Udo Jürgens noch immer. Da habe ich wohl eine Chance verpasst, als ich meinen Geburtstag mit den zwei Sechsen feierte? Den Anfang meines Lebens an diesem Tag verpasst - und trotzdem Glück gehabt?

Wenn ich mich recht erinnere - und ich erinnere mich in diesem Falle recht - , wenn ich mich also recht erinnere, dann habe ich schon vor meinem 66. Geburtstag gelebt. Und in den zurückliegenden elf Jahren erst recht! Womit ich von hinten herum verraten habe, dass ich neulich 77 Jahre auf meinem Lebenskalender vermerkte. Da war vor meinem Sechsundsechzigsten nicht nur Glück und danach auch nicht! Im eigenen Leben und im Leben der Menschen um mich herum. Die verpassten Chancen stets zu einem Neubeginn zu nutzen - eine Lebenskunst, die deshalb immer wieder versucht werden muss. Darum trage ich einige meiner Erinnerungen und Erfahrungen zusammen. Versuche, sie auf den Kern zu bringen, verdichte sie, mache mir und anderen so manches Gedicht daraus. Der Zyklus mit der Überschrift »Im Älterwerden« wird immer umfangreicher. Das liegt in der Natur auch meines Älterwerdens.

Die Sache, über die ich da nachdenke und reflektiere, bereitet ja nicht nur Freude. Anderen nicht und mir nicht. So manche körperliche Mühsal plagt uns mit der wachsenden Zahl an Lebensjahren. Bedauern bedrückt das eine oder andere Mal, denkt man an verpasste Lebenschancen zurück. Und auch die Melancholie schleicht manchmal durch die Gedanken, wenn man an den vor einem liegenden Weg denkt, der immer kürzer wird. Aber: Ich stifte mir und anderen Lebens-Alten hin und wieder Mut, indem ich ihnen meine poetischen Gedanken darüber vortrage, was das Alter wertvoll, inhaltsreich und auch fröhlicher machen kann. Bescheidener muss ich formulieren: Ich bemühe mich darum. Nicht immer gelingt es so wirkungsvoll, wie ich mir das wünsche. Manchmal verpasst man auch bei solchen Gelegenheiten eine Chance. Und: hat doch Glück!

Wurde ich doch letztens zu einer Lesung mit meinen Gedichten über das Älterwerden eingeladen. In einem Seniorenzentrum mit dem interessanten Namen »Kiezklub Treptow-Kolleg«. Nicht einfach ist es, vor älteren beziehungsweise sehr älteren Menschen Gedichte vorzutragen. Gedichte über die Augen oder über das Hören aufzunehmen, das wird in der heutigen fernsehüberbilderten Zeit nicht mehr gepflegt. Die Schwierigkeiten beginnen aber schon damit, dass viele von uns Älteren schlecht hören. Es ist eben so!

Sitzt also während der Veranstaltung in der vorletzten Reihe eine ältere Dame, eine deutlich ältere Dame. Klein, frühlingsfrisch gekleidet, Silberhaar ... sie sendet Freundlichkeit aus. Ich hatte sie schon bemerkt, als ich den Raum betrat und am Vorlesetisch meine Sachen ordnete. Die Leiterin des Klubs begrüßt die Anwesenden und mich. Ich bedanke mich artig und humorvoll. Man guckt mich erwartungsvoll an. Die besagte Dame in der vorletzten Reihe ebenfalls. Aber: Sie wackelt mit dem Kopf. Von links nach rechts, von rechts nach links. Pendelartig. Irgendwie verneinend.

Ich frage in die Runde hinein, ob ich denn gut zu verstehen sei. Allerseits die Antwort: »Hmmm, hmmm«. Eine Stimme meldet sich allerdings mit einem fordernden: »Lauter!« Diese Stimme meldet sich immer bei Veranstaltungen mit einem Publikum in höheren Lebensjahren. Selbst wenn ein funktionierendes Mikrofon und gute Lautsprecher zur Verfügung stehen. So jedenfalls meine Erfahrung.

Also: Ich lege los. Erstes Gedicht, zweites Gedicht. Eine kleine lustige Geschichte aus meinem Altersalltag lasse ich folgen. In der Runde wird gelacht. Ich spüre Zustimmung. Aber: Meine Zuhörerin in der vorletzten Reihe wackelt unverdrossen mit dem Kopf. Von links nach rechts, von rechts nach links. Das irritiert mich zusehends. Ich beginne mit dem Vorlesen eines weiteren Gedichts, stehe auf und gehe während des Vortragens durch die Tischreihen auf die mich weiterhin Verneinende zu. Ich bleibe vor ihr stehen, gucke sie lächelnd an und frage freundlich, sehr freundlich: »Gefallen Ihnen meine Gedichte nicht?«

Die Angesprochene lächelt zurück, lächelt mich fast strahlend an, unterbricht ihr Kopfpendeln, nickt dann bejahend - und anschließen wackelt sie wieder mit dem Kopf. Von links nach rechts und von rechts nach links.

Plötzlich wird mir klar: essenzieller Tremor! Mir fällt ein, dass sich ein Tremor auch im Kopfwackeln zeigen kann. Ich, oder besser meine Gedichte, wir waren also nicht gemeint. Ich lächele die ältere Dame in der vorletzten Reihe noch freundlicher an, entferne mich vorlesend im Rückwärtsgehen von ihr und wackele einen deutlichen Moment lang mit dem Kopf. Ohne zu überlegen. Von links nach rechts und von rechts nach links. Dann erschrecke ich. Denke blitzartig: »Was hast du da gemacht?«

Sie, die ältere Dame in der vorletzten Reihe, sie lächelt nicht mehr, sie lacht mich an, prustet dabei ein wenig und hält sich erschrocken die Hand vor den Mund. Da müssen wir beide lachen, wir zwei Alten. Unsere Chance haben wir beide an diesem Nachmittag nicht verpasst. Haben trotzdem Glück gehabt. Oder gerade deswegen!

Von diesem Moment an las ich meine Gedichte über das Älterwerden mit einem kleinen Glücksgefühl.

Malte Kerber, 12435 Berlin

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