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Liebestrost, Hypnose

Frank Martins »Le Vin herbé« in der Staatsoper Berlin

  • Irene Constantin
  • Lesedauer: 4 Min.

Zwölf Sänger, sechs Frauen-, sechs Männerstimmen, fast immer in akkordischem Zusammenklang, oft unisono geführt, erzählen die Geschichte von Tristan und Isolde. Sieben Streichinstrumente und Klavier begleiten den vokalen Klangstrom. Am Anfang trinken die irische Jungfrau Isot und der Ritter von Kornwall, Tristan, den Liebestrank, am Ende sind sie am gleichen Tag gestorben - an ihrer Liebe, »er durch sie, sie durch ihn«, wie es im Prolog heißt.

Es ist ein distanzierter Bericht, in einem schwebenden, narkotisierenden Parlando wird er vorgetragen. Selbst wenn einzelne Sänger aus dem Chor heraustreten und sich als Isolde, als Tristan, als Brangäne, als König Marke individualisieren, behält ihr Gesang den Gestus des Chores. Und wenn Frank Martins 1940 uraufgeführtes weltliches Oratorium »Le Vin herbé« (»Der Zaubertrank«) auch meilenweit von Wagners vor Leidenschaft überbordendem Musikdrama »Tristan und Isolde« entfernt ist, so sind beide Stücke doch auf je eigene Weise obsessiv. Wagner bringt sein Publikum im entgrenzten Malstrom des Liebesverlangens um den Verstand, Martin versetzt es in einen hypnotisch entrückten meditativen Zustand.

Frank Martin, dem die Konkurrenz seines für den Zürcher Madrigalchor komponierten Werkes zu Wagners »Tristan« bewusst war, griff nicht auf Gottfried von Straßburgs Textvorlage zurück. Er wählte eine 1900 veröffentliche Nacherzählung des französischen Mittelalterwissenschaftlers Joseph Bédier. In diesem »Roman de Tristan et Iseut« sind verschiedene mittelalterliche Vorlagen enthalten und Überlieferungslücken geschlossen, so dass sich eine stringente Handlung ergibt.

Um vom dramatischen Mysterium des Erotischen möglichst weit fort zu kommen, schloss Martin sein Werk durch einen Prolog und einen Epilog ein. Im kurzen Vorspiel kündigt der Chor das Folgende an, der Epilog erklärt die Wirkungsabsicht: Trost gegen den Schmerz und alle Leiden der Liebe. Wem seine eigenen Schmerzen und Erinnerungen nicht schon während der Aufführung in der Seele brannten, spätestens hier hatten sie jeden im Publikum eingeholt - es dauerte einen Moment, bis man wieder nach außen schaute, Beifall klatschte.

Die Inszenierung von Katie Mitchell ist unaufdringlich und gleichzeitig von enormer Bildkraft. Sie zeigt eine aufeinander vertrauende, dennoch in der Zeit verlorene und aus allen Bindungen gefallene Gemeinschaft. Die zwölf Sänger, Emigranten, Künstler vielleicht - sie trugen gediegene Mäntel und Kleider in der Mode der Uraufführungszeit - hatten sich in einem Hinterhof mit hohen Ziegelmauern, vielleicht auch in einer aufgegebenen Fabrik oder in der Hinterbühne eines verrotteten Theaters, versammelt. Weiße Tisch- und Betttücher, Kerzen und eine große Flammenschale verbreiteten - gegen Schutthaufen und ein aus den Angeln hängendes Tor - eine festliche Wärme.

Sie haben sich den Rahmen für ein Theaterspiel geschaffen, ein Spiel nur für sich selbst. Im Chor singen sie ununterscheidbar gemeinsam. Tritt ein Solist hervor, nehmen ihm zwei Mitspieler Mantel und Kopfbedeckung ab. In Kleid oder Anzug gewinnen die Figuren Individualität. Aus Sopran 2, Tenor 2, Bass 5 werden Isolde, Tristan, König Marke. Ihre Handlungen spielen sie in äußerster Zurückgenommenheit: Es gibt das abgemessene Einschenken des Zaubertranks, Blicke, eine formvollendete Umarmung. Alle Aktionen sind symbolbeladene, choreografische Gesten. Aus dem hundertminütigen Werk erhebt sich nur zwei Mal eine den Rahmen gänzlich sprengende musikalische Geste. »Helas, ich Arme« singt Isolde, zum ersten Mal, als sie auf das Schiff nach Kornwall geführt wird, zum zweiten Mal, als sie zum sterbenden Tristan unterwegs ist und ein Unwetter ihr Schiff aufhält. Selbst ihr Trauergesang fällt in den melismatischen, narkotisierenden Chorstil zurück.

Wie verborgen auch immer, Anna Prohaska war eine leuchtende, rührende, sopranhelle und eindrucksvolle Isolde. Mit minimalistischen spielerischen Mitteln vermochte sie die Zauberwirkung der von ihrer Mutter in den Wein gemischten Kräuter, die verzehrende Liebe, den Verzicht, die Trauer um den toten Tristan zu spielen und zu singen. Trotzdem sprengte sie so wenig wie die anderen Solisten - Matthias Klink als sehr zurückgenommener Tristan, Evelin Novak als schüchterne Brangäne, Ludvig Lindström als tief ernster Marke - den Chorklang, dem sich jeder nach seinem Soloauftritt immer wieder anvertraute.

Das kleine Instrumentalensemble aus Mitgliedern der Staatskapelle musizierte außerordentlich prägnant und selbstbewusst. Franck Ollu am Pult gelang es, mit seinen acht Musikern, Frank Martins Klang zu straffen und in einer stets definierten Genauigkeit zu halten.

Das Ganze ein seltsam fremdes, faszinierendes musik-theatralisches Ereignis.

Nächste Vorstellung: 1.6.

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