Von der Wall Street in die Lokalpolitik

Die »Occupy«-Bewegung in den USA verlagert ihr Betätigungsfeld

  • Lesedauer: 3 Min.
Die in New York lebende Anwältin und Buchautorin Marina Sitrin war eine der Hauptorganisatorinnen der Bewegung »Occupy Wall Street«. Über deren gegenwärtige Aktivität befragte sie beim »Left Forum« in New York Max Böhnel.

nd: Das Durchschnittalter beim »Left Forum« war dieses Jahr erheblich höher als 2012, als viele Aktivisten von »Occupy Wall Street« teilnahmen. Gibt es »Occupy« überhaupt noch?
Sitrin: »Occupy« gibt es durchaus noch. Dass die Mehrzahl das »Left Forum« diesmal nicht besucht hat, liegt teilweise daran, dass sich die Aktivitäten der Bewegung in die Stadtteile New Yorks verlagert haben. Letztes Frühjahr, nach der Räumung des Zuccotti Parks, war »Occupy« noch rund um die Wall Street organisiert und darauf konzentriert. Damals versammelten sich Hunderte zu zentralen Vollversammlungen. Heute ist es anders. Es gibt in New York insgesamt sechs Nachbarschaftsversammlungen. Dort, in den Stadtteilen, finden die Aktivitäten statt.

Was steckt strategisch hinter dem Gang in die lokale Politik?
Lokale Politik ist in den USA oft viel mehr als ein bescheidenes Klein-Klein. Nehmen wir die freiwillige Arbeit hunderter »Occupy«-Aktivisten nach dem Hurrikan »Sandy«. Oder nehmen wir die Aktivitäten gegen Polizeigewalt. Es ist ja bekannt, dass die Polizei gerne in den armen, von Afroamerikanern und Latinos bewohnten Vierteln zuschlägt, ohne dass Medien darüber berichten. Erst Demonstrationen schaffen ein wenig Öffentlichkeit dafür. Wir versuchen, unseren Teil beizutragen. Jüngstes Beispiel ist eine Solidaritätsdemonstration für die Erhebung in der Türkei. So etwas findet nicht in Manhattan statt, sondern dort, wo New Yorks türkische Gemeinde lebt.

Ersetzt solche durchaus lobenswerte Arbeit wie die Unterstützung für Hurrikan-Opfer nicht letztlich »nur« offizielle staatliche und städtische Hilfe?
In den ersten Wochen verrichteten Zehntausende spontan Hilfsarbeiten, weil die Stadt, der Staat und die Bundesbehörden in ihrer Trägheit und Bürokratie kaum etwas unternahmen. »Occupy Sandy« gelang es innerhalb von Tagen nach dem Sturm, Freiwillige zu organisieren und für Hilfsarbeiten zu koordinieren. Das reichte vom Sandschaufeln über die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln, Notstromaggregaten und Wasser bis zur Begleitung von Alten und Verletzten zum Arzt und auf Behördengängen.

In den ersten Tagen haben wir viel darüber nachgedacht, wer was wann tun soll. Das war einfach notwendig, weil außer uns niemand da war - und wir hatten ja auch die Erfahrung in der Selbstorganisation.

Dem folgten aber die Behörden mit ihrer ganz eigenen Politik?
Statt den Leuten beim Wiederaufbau ihrer Häuser zu helfen, ließen die Behörden Umstrukturierungspläne kursieren. Auf einmal hieß es: Die Sozialwohnungen dort könnten wir eigentlich durch ein teureres Hochhaus ersetzen. Zusätzlich zu den Zerstörungen wurden die Betroffenen mit fragwürdigen Entwürfen konfrontiert, die in manchen Fällen sogar Umsiedlungen erfordert hätten. »Occupy Sandy« setzte daher fortan weniger auf direkte Hilfe als auf politische Aufklärung und Hilfestellungen zu Fragen wie Selbstorganisation und Stadtteilpolitik. Im Brooklyner Viertel Redhook, das von »Sandy« stark betroffen ist, finden inzwischen Bürgerversammlungen statt. Die Leute stellen zum ersten Mal Forderungen an ihre Politiker.

Auch beim »Left Forum« wurde der rein karitative Aspekt kritisiert. Was ist aus anderen Ideen geworden, die »Occupy Wall Street« ursprünglich entwickelt hatte, etwa die Studentenstreiks gegen die hohe Studienverschuldung oder aus Hausbesetzungen?
Aus dem Rückzahlungsstreik wurde nichts, weil die kritische Masse nicht erreicht wurde. Es hätte Tausender Studierender bedurft, die die Schuldenrückzahlung auf Dauer und unter großem persönlichem Risiko verweigert hätten. Das Problem bei Hausbesetzungen ist die überaus scharfe Repression in den USA.

Was allerdings statt direkter Aneignung von Immobilien stattfindet, sind Kampagnen gegen Zwangsenteignungen und -räumungen. »Occupy«-Aktivisten ist es in einigen Fällen gelungen, durch zivilen Ungehorsam und direkte Aktionen das Schlimmste zu verhindern. »Occupy« muss man sich als eine lebendige Form von direkter Demokratie und Aktion vorstellen, nicht als symbolische Besetzung eines großen öffentlichen Platzes. Das war früher einmal.

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