Haben Kurden wieder Anlass zur Furcht?

Der türkische Parlamentsabgeordnete Ertugrul Kürkcü (BDP) glaubt nicht daran

  • Nicolas Šustr
  • Lesedauer: 3 Min.

nd: Als Abgeordneter des türkischen Parlaments waren Sie vor der Erstürmung des Lagers im Gezi-Park. Welche Eindrücke hatten Sie?
Kürkcü: Es gab dort Leute, die seit mehr als zwei Wochen dabei waren. Manche kamen aber auch nur für einen Tag vorbei - aus dem ganzen Land. Das war eine Art Wallfahrtsort für alle in der Türkei geworden, die Freiheit wollen. Im Laufe der Zeit waren vielleicht drei bis vier Millionen Menschen dort, wobei man natürlich nicht vergessen darf, dass Istanbul sehr groß ist.

Was für Menschen hatten sich dort versammelt?
Auffällig war, dass mehr als die Hälfte der Demonstranten Frauen waren. Das gab es noch nie in der Türkei. Neben Studenten waren auch sehr viele Arbeiter da, was ebenfalls ungewöhnlich ist, weil Gewerkschaften in meinem Land fast keinen Einfluss haben. Etablierte politische Strukturen spielten da keine Rolle. Es gab auch keine wirtschaftlichen oder sozialen Forderungen. Die Leute gehen auf die Straße, weil sie selbstbestimmt leben wollen.

Haben die Geschehnisse einen Einfluss auf die Bemühungen zur Befriedung des Konflikts zwischen der Regierung und den Kurden?
Im Kurdengebiet gab es in letzter Zeit kaum noch Auseinandersetzungen. Daher war überhaupt erst Luft dafür, über Fragen zu sprechen, die bisher wegen des Konflikts hintan standen. In den kurdischen Städten ist es bisher sehr ruhig geblieben. Die Menschen haben einfach Angst, die Erfolge der letzten Zeit zu gefährden. Andererseits spielten die Kurden bei den Protesten im Westen der Türkei, also außerhalb des angestammten Siedlungsgebiets, eine führende Rolle. Sowohl der inhaftierte PKK-Führer Abdullah Öcalan als auch der BDP-Vorsitzende Selahattin Demirtas haben die Proteste begrüßt. Sie haben allerdings davor gewarnt, dass die Kemalisten zu großen Einfluss bekommen.

Befürchten Sie einen Abbruch des Friedensprozess?
Ich schließe das eigentlich aus. In Iran, Irak und Syrien sind die Kurden sehr stark, Erdogan möchte da keine neuen Auseinandersetzungen, und auch die jetzige Militärführung möchte den Konflikt beenden. Allerdings gibt es einen Stillstand bei den Verhandlungen zwischen Guerilla und Armee. Wir von der BDP haben gefordert, dass das Parlament auf die Sommerpause verzichtet, um Verfassungs- und Gesetzesänderungen zu beschließen, die den Kurden Sicherheit geben würden. Das hat die AKP leider abgelehnt. Es kann natürlich sein, dass die Bevölkerung nicht so lange warten will und es wieder einen Aufstand gibt. Allerdings hat die Türkei auch wegen des arabischen Frühlings großes Interesse, den Konflikt zu lösen und als starke Macht dazustehen.

Fragen: Nicolas Šustr

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