nd-aktuell.de / 17.06.2013 / Kultur / Seite 15

Einen Schritt zurück

Türkei-Protest: Medien ohne Distanz

Tobias Riegel

Imagine all the People living for today». Hach ja. Der Taksim-Platz in Istanbul. Man wird ihn vermissen. All die nicht gelebten 68er-Fantasien, die deutsche Redakteure auf die Helden der modernen Türkei projizieren konnten. Auf Aysche etwa, die die Plätzchen backt. Oder Mustafa, dem die Gasmaske immer verrutscht. Und dann schallt auch noch mit «Imagine» von John Lennon die Hippiehymne aus einem Flügel über das ergriffene Schlachtfeld. Steven Spielberg hätte das nicht emotionaler inszenieren können.«

Nun, da sich der Nebel aus Tränengas und großen Gefühlen lichtet, wäre der Moment, einen Schritt zurückzutreten. Ist das ein linker Aufstand, der von der »Bild«-Zeitung bis zur »taz« so einhellig gefeiert wird? Man weiß es nicht, denn Symbolik und Jargon der bis heute schwer zu beurteilenden Bewegung wurden übernommen, der Fokus eng auf die tagesaktuellen Vorgänge auf der Straße gelegt - mit einem eindeutigen Anti-Erdogan-Tenor. Das mag Musik in der Ohren vieler Linker sein. Es hinterlässt einen aber auch ratlos. Wo waren die Analysen der großen Medien jenseits der Tränengas-Homestory?

Das kann auch dieser Text nicht leisten. Aber es wäre Zeit, die nun am Taksim-Platz Kerzen entzündenden Türkeiexperten der Presse würden ihren Blick wieder aufs Große und Ganze werfen: Wer protestiert hier genau? Was macht den einst geachteten Staatsmann Erdogan nun zum Diktator, ja »Faschisten«? Was würde ein Abgleiten der Türkei ins Chaos, eine Rückkehr des Militärs bedeuten? Für die jetzt nach Jahren wieder aufzunehmenden EU-Verhandlungen? Für den Bürgerkrieg in Syrien? Für die auf den ersten Blick emanzipatorischen Kräfte auf dem Taksim-Platz? Für die abgehängte Landbevölkerung? Dass es Letztere nicht ist, die auf der Straße ihre Rechte einklagt, scheint sicher. Hier wurde nicht gegen die Wirtschaftsordnung oder himmelschreiendes Unrecht protestiert. Die Mehrheit der Aktivisten entstammt scheinbar der oberen Mittelschicht, die von Erdogans Politik stark profitiert hat.

Die Bäume, um die es sich anfangs drehte, sind schön - ist es angemessen, dafür das öffentliche Leben eines Landes lahmzulegen? Und das wenige Tage vor den jahrelang erwarteten EU-Verhandlungen? Letztere werden, wenn es nach den Kommentatoren in deutschen Internetforen geht, mit dem »Islam-Faschisten« Erdogan gar nicht erst aufgenommen. Hier zeigt sich bereits die verheerende Wirkung einer ungenauen Berichterstattung. Der Rausch der Tat, die Polizeigewalt, die Tränen der Wut und des Gases: das ist großes Gefühlskino, das eine strategische Kurzsichtigkeit bei den Beteiligten nachvollziehbar macht. Wer im Schützengraben sitzt, verliert den Überblick. Was man auch den Lageberichten der eingebetteten Berichterstatter von »Spiegel-Online« beim Aktivistenfrühstück anmerkt.

Ob die Kollegen die gleiche Begeisterung versprühen würden, wenn auf dem Gendarmenmarkt die Barrikaden brennen würden? Wenn es in der Türkei die Chance einer linken Regierungsübernahme gäbe? Werden sie Angela Merkel in die Nähe von Faschisten rücken, wenn sie das Preußenschloss durchsetzen wird?

Erdogan ist ein zwiespältiger Politiker. Seine konservative Rhetorik ist für Linke schwer zu ertragen. Die Pressefreiheit hat stark gelitten, seit seinem Amtsantritt. Die Exzesse der Polizei müssen Konsequenzen haben. Andererseits hat er die Gesellschaft entmilitarisiert wie kein türkischer Staatsmann vor ihm. Er hat den Kurdenkrieg beendet und die Offiziere entmachtet. Er hat für eine soziale Gesundheitsreform internationalen Respekt erhalten. Die Türkei steht nach zahlreichen gesellschaftlichen und ökonomischen Indikatoren weit besser da als vor seinem Amtsantritt. Insofern birgt der moderate Islam, wie er ihn verkörpert, ein durchaus antikoloniales Potenzial. Auch erschöpft sich die befürchtete islamische Revolution in Symbolpolitik. Die Lockerung des Kopftuchverbots kann man in ihrer Wirkung sogar als fortschrittlich bezeichnen. Doch praktisch über Nacht wurde (man muss es so allgemein sagen) in unseren Medien aus dem umstrittenen, aber mehrfach bei einwandfreien Wahlen bestätigten Politiker ein sein Volk unterdrückender »Sultan«.

Das macht stutzig. Die eingeforderte Emanzipation als Einfallstor für Einmischung? Diese Verbindung machen nicht nur Paranoiker aus. Hier ist eine scharfe Trennung zwischen den berechtigten Forderungen einer urbanen Avantgarde und deren Instrumentalisierung gegen eine - warum auch immer gerade jetzt - unbequeme Regierung nötig. Konservatismus schützt keineswegs vor äußerer Intervention.

Früher standen eher die Land- und Slumbevölkerungen im Fokus der Linken. Das hat sich zugunsten der privilegierten Städter verschoben. Man überträgt dabei gelegentlich die eigenen Erfahrungen im Kampf gegen den bayerischen Mief auf Länder wie Iran, Russland oder nun die Türkei. Vergessend, dass viele Landbewohner nicht mit deutschem Provinzialismus zu kämpfen haben, sondern mit Slumbildung, Wasserknappheit und Stromausfall.

Andererseits kann man schwer vom deutschen Wohnzimmer aus verlangen, dass sich die hungrige Elite der türkischen Großstädte gefälligst noch ein wenig gedulden soll. Zumal diese Geduld etwa gegenüber der EU schändlich enttäuscht wurde. Aber muss man sich in diesem Konflikt eines zerrissenen Landes mit der erlebten Eindeutigkeit auf eine Seite schlagen? Und wurden wir nicht gerade im Falle Syrien hinters Licht geführt?

Friedliche Demonstranten, von Präsident Assad »mit Düsenjets attackiert«. Ein offensichtlich verrückt gewordener Faschist richtet Blutbäder unter einer ihn hassenden Bevölkerung an. Das war die monatelange, dringliche Botschaft - ebenfalls von »Bild« bis »taz«. Inzwischen lassen die bekannten Indizien (unter vielen anderen) folgende Deutung zu: Ein noch immer von großen Teilen der Bevölkerung unterstützter Präsident wehrt sich gegen hochgerüstete und von Giftgas-Legenden flankierte CIA-Islamisten.

Die türkische Krux: Unterm Strich fördert der auf den ersten Blick emanzipatorische Protest eher die autoritären Strukturen, die Erdogan zurückgedrängt hat. Seinen Anhängern gegenüber, der Mehrheit der Bevölkerung, steht er nun in der Pflicht, genau den Ruhe-und-Ordnung-Pfad zu forcieren, der von der Gegenseite beklagt wird. Die Linken (wenn sie es denn sind) stärken mit der Schwächung Erdogans die Militaristen und Ultranationalisten - eine organisierte sozialistische Alternative gibt es nicht.