Eines jeden Weg beginnt gleich hier

Pilgern auf dem Großpolnischen Jakobsweg

Einsamkeit trägt zuweilen ein schönes Antlitz: lehmige Feldwege, rauschender Roggen, wehende Wolken - und keine Menschenseele weit und breit. In Idzby, einem Dorf am östlichen Rand der Woiwodschaft Wielkopolska (Großpolen), deutet ein Wegweiser an einer Birke nach rechts: »Duzno 3 km, Gniezno 40 km, Santiago de Compostela 3595 km«. Darunter prangt auf blauem Grund eine weiße Muschel mit einem roten Kreuz darin: Willkommen am Großpolnischen Jakobsweg.

Jakobsweg - in Polen? Liegt der nicht ganz woanders? Allen Zweiflern, die den Jakobsweg nur in den Pyrenäen verorten, gibt Piotr Goralczyk eine philosophische Erklärung für die historische Tatsache, dass sich seit dem Mittelalter Menschen in ganz Europa auf die Pilgerschaft machten, dass sich ein ganzes Netz von Pilgerwegen schon damals nach Santiago de Compostela wand: »Der Jakobsweg beginnt nicht an einem bestimmten Punkt. Er beginnt in Deinem Kopf, in Deinem Herzen, vor Deiner Haustür. Geh los, wenn Deine innere Stimme es Dir sagt.«

Und dann wendet sich der Mann mit dem armdicken Wanderholz gen Westen und marschiert los. Goralczyk gehört zum Verein der Freunde des Jakobsweges in Polen. Seit 2003 versuchen er und seine Mitstreiter, die alten Pilgerrouten zu rekonstruieren und wiederzubeleben: Schließlich ist seit 1379 urkundlich festgehalten, dass auch aus der Gegend rund um Poznan und Gniezno gen Santiago de Compostela gegangen wurde. 394 Kilometer hat der Verein schon ausgeschildert.

Bereits im 12. Jahrhundert pilgerten etwa 200 000 Menschen aus ganz Europa pro Jahr in das Dorf an die Atlantikküste, wo im 9. Jahrhundert ein Einsiedler namens Pelagius nach einer Eingebung unter einem Sternenfeld, einem Gestirn also, jene Stelle entdeckt haben soll, an der die sterblichen Überreste des Heiligen Jakob liegen, der bereits im Jahr 44 den Märtyrertod gestorben war. Seither heißt der Ort Santiago (spanisch: Heiliger Jakob) de Compostela (lateinisch: Campus stella - Sternenfeld). Weil der Ort an der Küste Galiziens so reich an Muscheln ist, wurde der Heilige Jakob oft mit Muschel und Pilgerstab dargestellt.

Heute begeben sich jedes Jahr mehr als 90 000 Menschen auf die Pilgerschaft nach Santiago de Compostella, das im Mittelalter als eines der drei Hauptpilgerziele neben Jerusalem und Rom galt. Ob es die neuerweckte Sehnsucht vieler Menschen nach Gott ist oder - dank unzähliger Bücher und Filme - ein touristischer Trend: Die Selbsterfahrungsreise auf dem Jakobsweg zieht viel magisch an. Schon Aristoteles soll seine Schüler am liebsten im Gehen über die Grundfragen des Lebens unterwiesen haben. Sich auf den Weg machen, zu Fuß, per Fahrrad. Unterwegs sein und Neues entdecken, zu einfachen Dingen zurückfinden: Wasser. Brot. Weggefährten. Obdach.

»Europa ist auf der Pilgerschaft geboren«, sagte einst Goethe, das Christentum sei seine Sprache. Überall auf dem Kontinent werden heute alte Pfade der Pellegrini (Pilger) wiederentdeckt, natürlich auch im katholischen Polen mit seiner legendären Wallfahrtstradition. Wie in Spanien bekommen die »Pielgrzymi« einen Pilgerausweis (Credencial), in dem es gilt, Stempel der besuchten Orte zu sammeln, er berechtigt zur Übernachtung in Pfarreien und Klöstern. Wer auf dem Großpolnischen Jakobsweg pilgern will - er führt von Gniezno nach Jakubow und später auch nach Görlitz und Prag - findet den idealen Einstieg über die Internetseite www.camino.net.pl. Dort wird der Pilgerausweis bestellt, dort findet man die Übernachtungsmöglichkeiten, die keineswegs so zahlreich sind wie in Spanien oder Frankreich.

Der moderne Pilger kann sich die Pilgerroute aufs Handy - oder besser ein GPS-Gerät - laden, denn nicht immer sind die quadratischen blauen Schilder mit der Jakobsmuschel zweifelsfrei auszumachen.

Schlafsack und Isomatte gehören ins Gepäck, denn die Unterkünfte sind nur selten komfortabel. Auch Begegnungen mit Pilgerern sind die Ausnahme. Stattdessen öffnen sich die Pforten einer jeden Dorfkirche. Wie in Dalewo, wo Pfarrer Marian Cynka erst nach heftigem Klopfen an seiner Pforte erscheint. »Buen Camino!« grüßt der alte Mann und verschwindet sofort in der Küche des Pfarrhauses, um bald darauf mit Pampelmusen für die Pilgerer zurückzukommen. »Nehmen Sie, das ist gesund, Sie können es gebrauchen!«

Der Pfarrer führt durch die Kirche des Heiligen Adalbert, ein gotischer Bau aus dem 14. Jahrhundert, und schwärmt von den vielen Sanktuarien in der Region: »Den Dom in Poznan, wo die Geschichte des Staates Polen begann, den müssen Sie sehen! Oder auch den herrliche Dom in Gniezno, oder die Abtei der Benediktinermönche in Lubin!«

Auf die Frage, ob denn oft Pilger vorbeikämen, antwortet der Geistliche lächelnd: »Es werden immer mehr!« Immerhin sei im Mai sogar eine Deutsche bei ihm gewesen, aus Frankfurt am Main. Sie habe das Zimmer unter dem Dach gehabt und gestaunt, dass es des nachts bei offenem Fenster dennoch so leise sei. »Am schönsten fand sie es, den Nachtigallen zu lauschen!« Und neulich, da seien zwei Abiturientinnen aus Bialystok vorbeigekommen, die werden noch bis Oktober pilgern, bevor sie dann an die Universität gehen: »Die haben die längsten Ferien ihres Lebens«, sinniert Pfarrer Cynka. »Vielleicht auch die schönsten.«

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