Gleich und doch verschieden

Wissenschaftler erforschen bei Tieren, wie Individualität entsteht

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 3 Min.

Was ist wichtiger für die Entwicklung eines Individuums: dessen Erbanlagen oder die Umwelt? Heute sind sich die meisten Wissenschaftler einig, dass der zwischen diesen beiden Faktoren oft behauptete Antagonismus gar nicht besteht. Im Gegenteil: Die Natur liefert die Gene und erst die Umwelt bestimmt, ob und wie sich die darin verborgenen Möglichkeiten in der Ontogenese entfalten.

Das hat zur Folge, dass auch eineiige Zwillinge, die bekanntlich über die gleichen Gene verfügen, sich durchaus unterschiedlich entwickeln, selbst wenn sie gemeinsam aufwachsen. In einer Tierstudie haben Wissenschaftler um Gerd Kempermann vom Forschungszentrum für Regenerative Therapien der TU Dresden jetzt genauer untersucht, wie sich individuelle Umwelterfahrungen in speziellen Hirnstrukturen niederschlagen. Die Forscher beobachteten zu diesem Zweck 40 genetisch identische Mäuse, die sich dasselbe Gehege teilten. Auf den ersten Blick könnte man also meinen, dass die Nager ein Leben unter gleichen Umweltbedingungen führten. In Wirklichkeit jedoch war das Gehege so groß und abwechslungsreich, dass jede Maus darin ihre ganz individuellen Erfahrungen machen konnte.

Indem sie alle Mäuse mit Mikrochips ausstatteten, konnten die Wissenschaftler über Funk für jedes Tier ein detailliertes Bewegungs- und Aktivitätsprofil erstellen. Drei Monate dauerte das Experiment; danach hatten viele Mäuse tatsächlich so etwas wie eine Individualität entwickelt, die sich in ihrem Gewicht äußerte, aber mehr noch in ihren Verhaltensmustern.

Wie die Forscher im US-Fachjournal »Science« (Bd. 340, S. 756) überdies berichten, war die Aktivität der Mäuse mit einer auffälligen »adulten Neurogenese« korreliert. So bezeichnet man in der Wissenschaft die Neubildung von Nervenzellen im Hippocampus, einer Region des Gehirns, die für Lernen und Gedächtnis zuständig ist. Diese Region nahm an Umfang besonders bei jenen Mäusen zu, die das ihnen zur Verfügung stehende Territorium intensiv erkundeten und sich damit mehr bewegten als andere Tiere. Zur Kontrolle wurden einige Mäuse in eine eher karge Umgebung versetzt. Erwartungsgemäß fiel bei ihnen die adulte Neurogenese im Schnitt deutlich geringer aus.

Die Tatsache, dass im menschlichen Hippocampus ebenfalls eine adulte Neurogenese stattfindet, hat die Forscher bewogen, ihre im Tierexperiment gewonnenen Erkenntnisse in einen allgemeineren Zusammenhang zu stellen. Das heißt, sie gehen davon aus, dass persönliche Erfahrungen und daraus folgende Verhaltensweisen auch bei Menschen einen Beitrag zu einer »Individualisierung des Gehirns« leisten, einer Individualisierung, die sich weder direkt auf die Umwelt noch auf genetische Unterschiede zurückführen lässt. Im Grunde könnte man damit auch erklären, warum eineiige Zwillinge, die unter nahezu gleichen Umweltbedingungen aufwachsen, sich dennoch oft unterschiedlich entwickeln: Die vermeintlich gleiche Umwelt werde von verschiedenen Individuen auf unterschiedliche Weise wahrgenommen, meint Kempermann, der überzeugt ist, dass die neue Studie nicht nur für Biologen und Pädagogen, sondern auch für Mediziner von Bedeutung ist. Denn sie berührt die Frage, wie körperliche Aktivität die kognitive Leistungsfähigkeit im Alter beeinflusst und wie sich dadurch möglicherweise das Risiko für eine Demenzerkrankung vermindern lässt.

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