nd-aktuell.de / 17.12.2005 / Kultur

Bären und Wölfe - des Menschen Sündenböcke

Im schwedischen Hinterland schwillt der Streit über den Umgang mit Raubtieren an. Im Grunde geht es in dem Konflikt zwischen Jägern, Bauern, Naturschützern und Stockholmer Regierungspolitikern jedoch um etwas anderes

Bernd Parusel, Falun
Am Abend des 1. Dezember drängen sich an die 2700 Jäger vor der Sporthalle »Lugnet« in Falun. Mit Bussen sind sie aus dem ganzen Land in die mittelschwedische Stadt gereist, um für eine Änderung der schwedischen Raubtierpolitik zu demonstrieren. Der Vorsitzende des Jägerverbands »Svenska Jägareförbundet« Owe Wiktorin hat die größte Demonstration in der Geschichte der Organisation angekündigt. Während sich die meisten der auf Einlass wartenden Verbandsmitglieder vor Journalisten wortkarg geben, weil sie wissen, dass ihre Forderungen nach einer Aufweichung der strikten Regeln für die Jagd auf Bären, Luchse und Wölfe bei vielen Landsleuten auf Ablehnung stoßen, sprechen ihreTransparente Bände. »Våga vägra varg« steht auf einem - »Wage es, Wölfe abzulehnen«. Einer der Wartenden verkauft Aufnäher mit der gleichen Aufschrift, ein anderer bricht die allgemeine Schweigsamkeit und poltert, die Politiker in Stockholm hätten keine Ahnung, wie es den Menschen draußen im »Land der Wölfe« gehe: »Wölfe reißen unsere Jagdhunde, nehmen den Bauern ihre Schafe, und aus Stockholm bekommen wir zu hören, dass wir uns nicht mal gegen solche Attacken wehren dürfen.« Für Bären, deren Zahl auf 2- bis 3000 geschätzt wird, gibt es in Schweden jedes Jahr ein Abschusskontingent, verbunden mit einer Meldepflicht. Nach Erreichen der Quote ist die Jagd untersagt. Noch striktere Regeln gelten für Wölfe, von denen es in freier Wildbahn nur rund 120 Exemplare gibt. Sie stehen unter strengem Naturschutz und dürfen überhaupt nicht gejagt werden. Bauern, die um ihre Schafe fürchten, dürfen erst dann tödliche Schüsse abfeuern, wenn ein hungriger Wolf bereits ein Tier gerissen hat und sich trotz Drohgebärden nicht in die Flucht schlagen lässt. Obwohl der Staat für Nutztiere, die Raubtieren zum Opfer fallen, Entschädigungen zahlt, akzeptieren viele Bauern und Jäger das Abschussverbot nicht. Seit langem werben sie dafür, Wölfe auch vorbeugend töten zu dürfen. Die Demonstration in der Faluner Lugnet-Halle ist vorläufiger Höhepunkt dieser Kampagne. Im Saal ruft Owe Wiktorin der Menge zu, was er von der Regierung erwartet: »Mehr Respekt für die Menschen im Land der Wölfe«. Die offizielle Raubtierpolitik sei »gescheitert« und werde von der Bevölkerung abgelehnt. Aus der Sicht des Verbands geben in der Hauptstadt weltfremde Naturromantiker den Ton an, Leute, die von der Realität derer, die in direkter Nachbarschaft von Raubtieren leben, keine Ahnung haben. Nach Wiktorin kommt Raubtierforscher Olof Liberg ans Mikrofon und kündigt an, sachlich über die Lage der Raubtiere zu berichten. Doch die Zuhörer scheinen nur eines hören zu wollen. Als der Forscher von illegaler Jagd berichtet, einer der Haupttodesursachen bei schwedischen Wölfen, klatschen die Jäger lautstark Beifall. »Es gibt offenbar nichts, was so ernst wäre, dass man sich nicht darüber lustig machen könnte«, erwidert Liberg resigniert. Dass Elche durch Tritte mit den Hufen oder vor allem bei Autounfällen weit mehr Todesopfer fordern als Raubtiere, oder dass wildernde Hunde um ein Vielfaches mehr Schafe und Ziegen töten als Wölfe oder Bären - das interessiert an diesem Abend allenfalls eine Handvoll Tierschützer, die bei Minustemperaturen vor der Halle ausharren. Auch diese Gruppe weiß jedoch, warum sie zur Lugnet-Halle gekommen ist. »Rotkäppchen liebt den Wolf«, steht auf einem Transparent. »Wer ist eigentlich am gefährlichsten?«, wird auf einem anderen rhetorisch gefragt. Er sei nach Falun gereist, um zu zeigen, dass es sich bei den versammelten Jägern nur um eine - wenn auch lautstarke - Minderheit der schwedischen Bevölkerung handele, sagt Kent Peterson, Mitglied im Tierschutzbund »Djurens Rätt« (Recht der Tiere) im südlich von Falun gelegenen Ludvika. Den Aufmarsch der Jäger findet er »merkwürdig«. Ihrem radikalen Flügel gehe es im Grunde gar nicht darum, Schafe und andere Nutztiere vor Raubtieren zu schützen. »Die Jäger betrachten Wölfe und Bären als Konkurrenz, weil es ihnen um das gleiche geht, um die Jagd auf Elche und Rehe.« Als einziger in der kleinen Gegendemonstration sieht Peterson groß und stark aus, erweckt den Eindruck, als könnte er sich notfalls auch mit den Händen gegen die ihn missmutig beäugenden Jäger zur Wehr setzen. »Die Menschen, die hier demonstrieren, haben keine Fakten auf ihrer Seite«, fährt er fort. Die Elche, die von Wölfen getötet werden, fielen nicht ins Gewicht, von ihnen gebe es genug. Nicht sie oder die Jäger seien eine bedrohte Spezies, sondern das Wolfsrudel. Vor 30 Jahren galt der Wolf in Schweden als ausgestorben. Anfang der 80er Jahre wurde wieder ein Pärchen gesichtet, das vermutlich aus Norwegen kam. Seither erholt sich der Bestand - wenn auch nur langsam. Nahezu alle Tiere stammen von dem eingewanderten Paar ab. Die Wolfspopulation sei deshalb von Inzucht geprägt, erläutert Göran Steen vom »Raubtierverband«, der ebenfalls nach Falun gekommen ist. Viele Weibchen brächten in einem Wurf nur noch eines oder zwei Junge zur Welt, normal seien vier bis sechs, und wegen der mangelnden genetischen Erneuerung hätten Jungtiere oft ein schlechtes Sehvermögen und seien kaum überlebensfähig. Göran Steens Raubtierverband wirbt dafür, Wölfe, Luchse und Bären in freier Wildbahn zu erhalten. Aus seiner Sicht ist ein Konflikt zwischen Stadt und Land an dem seit Jahren anschwellenden Streit zwischen Jägern, Naturschützern und Hauptstadtpolitikern schuld. Viele Leute in entlegenen Regionen hätten »psychische Probleme«, meint Steen, fühlten sich von Stockholm vernachlässigt, weil es im Hinterland immer weniger Arbeitsplätze gebe, die Landwirtschaft unrentabel geworden sei, die jungen Leute abwanderten. Die Zurückbleibenden fühlten sich machtlos, abgewertet und übergangen. Während derartige Stimmungen anderswo in Aggression gegen Asylsuchende und Einwanderer umschlügen, äußerten sie sich im Hinterland, wo es keine Zuwanderer gibt, in Feindschaft gegenüber Wildtieren. »Die Leute suchen einen Sündenbock für ihr Verlierer-Dasein«, sagt Steen und nickt in Richtung der Raubtiergegner. »Sie machen einen Kult darum, dass sie - mit Bären und Wölfen als Nachbarn - in der Wildnis überleben.« Fragt man in der Schlange der Wartenden herum, so können viele Geschichten von Bekannten erzählen, die ein Schaf oder einen Jagdhund an einen Wolf oder Bären verloren haben. Nur wenige aber haben selbst einmal einen Wolf gesehen - anders als Göran Steen, der größtes Glück dabei empfindet, Wölfe oder Luchse in der freien Natur zu beobachten. Jahrelang habe er ein paar Exemplare der scheuen Tiere sogar in seinem eigenen Waldrevier gehabt, berichtet er, und ganze Nächte im Wald verbracht, um sie aus der Nähe studieren zu können. »Faszinierende Kreaturen.« Was aber sagen, lässt man den emotionsgeladenen Konflikt zwischen Tierschützern, Politikern, Jägern und Bauern beiseite, die Fakten? Darüber gibt Lena Berg Auskunft. Die zierliche Frau, der man Begeisterung für die Natur anmerkt, ist Raubtierbeauftragte bei »Länsstyrelsen Dalarna«, der Regionalverwaltung in Falun. Berg ist dafür zuständig, einen Überblick über die Entwicklung der Bären-, Luchs- und Wolfsbestände bereitzuhalten und die Ziele der Stockholmer Politik regional umzusetzen. Außerdem regelt ihre Behörde Schadenersatzansprüche von Bauern. Es passiere ab und zu, dass ein Raubtier ein Schaf reißt, berichtet Lena Berg, aber das sei keine ständige Erscheinung. Rund 30 Wölfe gebe es derzeit in Dalarna und angrenzenden Gebieten, berichtet sie und bestätigt, dass viele Rudel wegen Inzucht geschwächt sind: »Der Nachwuchs wird weniger.« Um den schwedischen Wolfsstamm erhalten zu können, hofft sie auf Einwanderung zusätzlicher Tiere aus Russland und Finnland. »Wenn der Stamm dauerhaft überleben soll, brauchen wir mehr als die jetzigen 120 Tiere, eigentlich mehrere hundert.« Den Bestand so zu erhöhen, dass der Stamm überleben kann, ist auch das Ziel der Stockholmer Raubtierpolitik. Aber »illegale Abschüsse sind ein Hauptgrund dafür, dass die Population - wenn überhaupt - nur langsam zunimmt«, klagt Lena Berg. Die Frage, ob Wölfe dem Menschen gefährlich werden können, verneint sie. Seit Menschengedenken sei es in Schweden nicht vorgekommen, dass ein Mensch von einem Wolf getötet wurde. »Und auch die ökonomischen Schäden sind gering«. Sie verstehe zwar, dass es für Jäger traurig ist, einen geliebten Jagdhund zu verlieren, der in ein Wolfsrudel gerät. Man könne jedoch Vorsichtsmaßnahmen ergreifen, den Hund etwa an die Leine nehmen. Außerdem zahle Länsstyrelsen für einen getöteten Hund über 1000 Euro Entschädigung. Die Raubtiere in den schwedischen Wäldern seien ungefährlich, meint auch Göran Steen, und für die meisten Menschen seien Begegnungen mit wilden Tieren ein großer Gewinn. Das sieht ein Großteil der Bevölkerung so. In Dalarna werden viele beeindruckende Geschichten erzählt, etwa die von einer Frau, die im Wald unterwegs war, um Preiselbeeren zu pflücken. Mit einem Körbchen in der Hand bewegte sie sich langsam einen Hügel hinauf. Oben angekommen, sah sie auf - und blickte einem Braunbären in die Augen. Doch die Frau bewahrte Ruhe und erinnerte sich an Tipps erfahrener Jäger: Man solle sich als Mensch zu erkennen geben, sprechen oder singen und einfach mit seiner Tätigkeit fortfahren. Die Beerensammlerin bückte sich also wieder, summte ein wenig vor sich hin und pflückte weiter. Rückwärts bewegte sie sich langsam wieder den Abhang hinunter, bis der Bär außer Sichtweite war. Solche Besonnenheit wünschen sich viele Schweden, und Freunde der Wildtiere sitzen, auch wenn der Jägareförbundet dies behauptet, nicht nur im fernen Stockholm. Denkt man an die Kritik Göran Steens, so mag man aber hoffen, dass es den Politikern in der Hauptstadt gelingt, dem Hinterland wieder Zukunftschancen zu bieten und die Stimmung der Landbevölkerung zu heben - ohne zur Jagd auf Wölfe zu blasen.