»Das sei ferne!«

Paulus und die »unsichtbare Hand«, Moral und Neoliberalismus

  • Edelbert Richter
  • Lesedauer: ca. 4.0 Min.
Wie Umfragen belegen, haben die Ossis es immer noch nicht gelernt: das alte Lied des Liberalismus, dass nämlich das allgemeine Beste gerade dann zustande kommt, wenn es nicht angestrebt wird, sondern wenn alle in fairem Wettstreit ihrem Privatinteresse folgen können. Meist wird als Autorität für diese Ansicht Adam Smith zitiert, aber das ist insofern nicht korrekt, als er erstens die Moral gerade nicht ausgeklammert, sondern seinem »Wohlstand der Nationen« eine Ethik der Sympathie zur Seite gestellt hat, und als er zweitens auch in seinem ökonomischen Werk ein staatliches Eingreifen gegenüber den großen Kapitaleigentümern sehr wohl für nötig hielt. Liest man sein Werk allerdings selektiv, so findet man in ihm in der Tat die Utopie vom »klaren, einfachen System der natürlichen Freiheit«, das wie von einer »unsichtbaren Hand« gelenkt das allgemein Beste hervorbringt. Das Befreiende der Botschaft für den naiven Leser: Es ist nicht mehr nötig, das Gute für andere zu wollen, weil es - unter den richtigen »Rahmenbedingungen« - ohnehin zustande kommt. Auf deinen guten Willen (nach Kant das Einzige, »was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden»!) kommt es nicht an, nur auf sachgemäßes Handeln, also: auf den Erfolg. Da man nun diese Gleichgültigkeit gegenüber dem kategorischen Imperativ schon als unmoralisch ansehen bzw. den Rückzug vom allgemeinen aufs private Interesse schon als böse einschätzen kann, ist die Botschaft sogar eine Aufforderung zur Unmoral: Es ist nicht nur überflüssig, das Gute zu wollen, es ist sogar falsch. Du musst das Böse wollen, weil nur so das allgemeine Beste zustande kommt. Das ist die zynische Zuspitzung, die Mandeville schon vor Smith der liberalen Botschaft gegeben hat. Du musst dich Mephisto anschließen und »ein Teil von jener Kraft« werden, »die stets das Böse will und stets das Gute schafft«. Inwiefern dies sogar die ursprüngliche, eigentliche Botschaft ist, kann man an allen traditionellen Gesellschaften und kann man bis heute an den Ostdeutschen und Osteuropäern sehr gut studieren: Sie wollen oder können das einfach nicht begreifen, es muss ihnen geradezu eingehämmert werden - der Mensch bzw. die Welt ist nun einmal so; der reale Sozialismus ist genau daran gescheitert, dass er ethisch zu optimistisch war usw. Worauf will ich hinaus? Auf den Verdacht, dass der Neoliberalismus im ethischen Kern eine Wiederbelebung der verneinenden Gnosis ist, der großen Konkurrentin des frühen Christentums. Denn die ethische Haltung, die ihm zu Grunde liegt, ist erstaunlich jener ähnlich, mit der sich schon Paulus in den frühen christlichen Gemeinden auseinandersetzen musste. Es war die Auffassung, dass unser bisschen Moral angesichts der überwältigenden Gnade des neuen Gottes nicht nur überflüssig, sondern sogar verkehrt sei. Weil die leibliche Welt ohnehin vom Übel ist und die neue geistige Welt in den »Kindern des Lichts« schon anbricht, ist eigentlich »alles erlaubt« (1. Kor. 6,12; 10,23). Hier schlug der Pessimismus in Bezug auf die Welt also in überschwänglichen Optimismus um, freilich nur für wenige. Für die vielen, die das noch nicht begriffen haben, die der Körperwelt noch verhaftet sind, d. h. die »Kinder der Finsternis«, ist Moral allerdings vonnöten. Daher kann die berühmte Frage des Paulus: »Wie nun? Sollen wir sündigen, weil wir nicht unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade sind?« (Röm. 6,15) wohl mit einigem Recht auch auf die heutigen Enthusiasten des Marktes angewandt werden, samt seiner Antwort: »Das sei ferne!« Paulus hielt nämlich die damaligen Enthusiasten nicht nur für lebensfremd, sondern für lebensfeindlich. Zwar wusste auch er um die Grenzen unserer Moral, zumal um den rätselhaften Zwang, dem sie unterliegt und der aus unserem noch so guten Wollen immer wieder nichts oder sogar das glatte Gegenteil werden lässt. (Röm. 7,18f) Insofern war auch für ihn diese Welt vom Übel. Aber gerade nicht, weil sie eine körperliche ist, sondern weil sie durch fortgesetztes, zur festen Struktur gewordenes menschliches Fehlverhalten in diesen absurden Zustand gebracht worden ist. Entsprechend lag das Fehlverhalten für ihn nicht im leiblichen Begehren, sondern in dessen ideeller Verherrlichung. Wenn nun aber diese traditionelle Struktur durch den neuen Gott gebrochen war, dann war der Mensch doch wieder frei, das Gute nicht nur zu wollen, sondern es auch zu vollbringen. Er war aber eben keineswegs frei, sich über Mitmenschen und leibliche Welt zu erheben und von einer höheren geistigen Warte her moralische Fragen für belanglos zu erklären. Schon gar nicht war er frei, nun umgekehrt das Böse zu wollen, um das Gute zu erreichen. Denn das bedeutete ja, die Liebe des neuen Gottes auszunutzen und vor den eigenen Wagen zu spannen. Genau diesen Versuch, den christlichen Gott, der in seinem Wesen Liebe ist, in unverschämter Weise auszubeuten, stellt die wirtschaftsliberale Ethik dar - indem im Wirtschaftsliberalismus das »Geheimnis der Welt« auf den Mechanismus der »unsichtbaren Hand« reduziert wird. Obwohl die Ossis zu einem großen Teil nicht mehr kirchlich sind, haben sie also den Apostel durchaus auf ihrer Seite. Und man darf gespannt sein, wann Kirchen und Christen angesichts jener machtvollen Häresie in den eigenen Reihen endlich ihre Gelassenheit aufgeben un...

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