Humor wie ein »schützender Sirup«

Julia Kissina erzählt in »Frühling auf dem Mond« von einer Kindheit in Kiew

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 4 Min.

Als »Entwicklungsroman eines Mädchens vor dem Hintergrund des physischen und ideellen Zerfalls der Stadt Kiew und ihrer Bewohner« - etwas dubios wird das Buch vom Verlag angekündigt. Ost-Grusel? Solcherlei westliche Vorstellungen - nenn›s Zeitgeist, nenn‹s Ideologie - hat die Autorin aber gerade nicht bedienen wollen. Kein Jammern, sondern witzige Episoden. Selbsterlebtes, das bei ihr nur seltsam gewesen sein kann. Denn Julia Kissina war als Kind schon aufmüpfig und zu einer Wahrnehmung begabt, die mancher träumerisch nennen mag. Ein »prälunatischer Zustand«, sagt sie selbst. Mondsüchtig oder gar verrückt - so wehrt man sich sehr effektiv gegen die Zumutungen des Alltags.

Ja, Zumutungen gab es viele in Kiew zu sowjetischen Zeiten. Zumutungen gibt es auch heute. Irgendwie muss der Mensch in ihnen bestehen. Und wenn ihm das irgendwie gelang, darf ihm das im Nachhinein doch keinesfalls zur Last gelegt werden.

Die quirlige, immer hilfsbereite Mutter des Mädchens (hat fast schon einen Helferkomplex), der schreibende Vater, durchaus mit kritischem Verstand, der aber nichts auf Lenin kommen lässt, »Ju. A.« im Rohseiden-Anzug, der sich als polnischer Adliger geriert, Onkel Philipp, der »Antisowjetler«, der seinen Gästen als Höhepunkt des Abends englisches Salz serviert, damit sie den Unterschied zum sowjetischen schmecken (können sie nicht), Onkel Wolodja, Wirtschaftsleiter bei Dynamo Kiew, der alles besorgen kann, die Mitschülerin Olja, die sich in einer Seance mit dem Geist von Gerard Philippe verheiratet - den Leser erwartet ein buntes Figurenpanoptikum.

Dabei macht sich die Autorin eine Lust daraus, jeglichen Klischeevorstellungen zu widersprechen. Der berühmte Polithäftling Ruslam Schalajew (man denkt sofort an den Autor Warlam Schalamow) erschien dem Mädchen wie eine Mumie, »und wenn ich ihn ansah, sah ich wie durch ihn hindurch Gorki unter der orangeroten Sonne Capris, die Solowezki-Inseln und sogar Stalin in seiner weißen Uniform. Den ganzen Abend wurde ich das Gefühl nicht los, Stalin befinde sich irgendwo in der Nähe, vielleicht schlich er sich ja gerade mit einem Messer oder einem Karabiner in der Hand heran, um die Anwesenden abzumurksen.« Da mischen sich einstige Impressionen mit heutigen Deutungen - immer in der Absicht zu sagen: Es war nicht so, wie ihr womöglich denkt.

In Kiew ging das Mädchen über verzaubertes Pflaster. »Im Unterwasserlicht der Abende war die Stadt reglos.« Und »das Licht aus den Pfützen war Taborlicht, jenes unerschaffene Licht, das alle irdischen Photonen und Wesenheiten überstieg und das sich weder denken noch beschreiben ließ, und wenn doch beschreiben, dann nicht in Worten, sondern nur mit einem kreatürlichen Gemuhe.«

Poetisch verschlungen ist Julia Kissinas Sprache, denn in ihrer Wahrnehmung war und ist nichts unmöglich. In der Wladimirkirche schneidet ihr die Jungfrau Maria auf einer Ikone eine Fratze und bezeichnet sich als wissenschaftliche Atheistin. Dagegen beschäftigt sich Irina Andrejewna, Dozentin für wissenschaftlichen Kommunismus, mit Geisterbeschwörungen, wobei sie eine besondere Bindung zu Garibaldi bekennt. »Die Geister der Verstorbenen beobachten uns und lesen all unsere Gedanken, sie kennen die Zukunft, und nur sie können das Schicksal vorhersagen ... Ich kann euch nur raten, wenn ihr irgendwelche Probleme habt, ruft mich an, und ich helfe euch, mit den Verstorbenen zu reden.«

Erinnerungsbrocken, Anekdoten - mitunter will es scheinen, dass Geschichte für Julia Kissina zur Schnurre wird. Aber was heißt Geschichte? Wahrheit und Deutung, immer zu unterscheiden vom persönlichen Leben und seinen Bedürfnissen. Julia Kissina entzieht sich jeglicher Vereinnahmung. Wahrscheinlich war die Distanz zum Gegebenen bei ihr immer schon groß. Denn zu welcher Zeit auch immer, das Gegebene verursacht Schmerzen. »Ich lebte in einer mich schützenden Erstarrung«, bekennt sie. Und an anderer Stelle: »Ich wollte im Zwischenstadium des Verzaubertseins bleiben, im Elysium der Jugend.«

Irgendwann in der Nacht fühlte sie sich von einem geheimnisvollen Licht geweckt und von einer seltsamen Freude ergriffen. Die machte ihr aber auch Angst, weil sie dahinter einen Abgrund vermutete. »Von da an wusste ich: Vor Gott haben wir eine Verpflichtung, die weitaus wichtiger ist als das Glück, weil sie menschlicher ist. Sie besteht darin, sich den Humor zu bewahren wie einen schützenden Sirup, der unseren inneren Menschen umgibt, und kein Quentchen davon zu verlieren.«

Julia Kissina: Frühling auf dem Mond. Roman. Aus dem Russischen von Valerie Engler. Suhrkamp. 250 S., geb., 18,95 €.

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