Kein Platz mehr in Bagdads Leichenhallen

Kämpfe in Irak kosten weiter tausende Todesopfer

  • Karin Leukefeld
  • Lesedauer: 3 Min.
Die Leichenhallen in Bagdad haben nicht mehr genügend Platz, um die vielen Toten aufzubewahren. »Die Unsicherheit im Land erschwert unsere Arbeit«, klagt Dr. Faak Amin, Leiter des Forensischen Medizinischen Instituts (FMI) in Bagdad. Es gebe nicht genügend Personal und es fehle an den medizinischen Instrumenten, um die erforderlichen Obduktionen schnell genug vornehmen zu können. Muslime sollen gemäß dem Koran ihre Toten innerhalb von 24 Stunden beerdigen, doch man könne die Toten ihren Familien erst mit großer Verzögerung nach zwei oder drei Tagen übergeben. Das FMI untersteht dem irakischen Gesundheitsministerium und zählt derzeit mehr als 1600 Leichen monatlich, berichtet Amin. »Wir haben keinen Platz mehr.« 90 Prozent der Toten seien Opfer von Anschlägen. »Wir können bis zu 120 Leichen aufnehmen. Doch jetzt müssen die Krankenhäuser die Leichen in ihren Kühlhäusern aufbewahren, bis wir wieder Platz für neue haben.« IRIN, das UN-unterstützte Informationsnetzwerk, zitiert Angehörige, die bis zu drei Mal im Monat kommen müssten, bis sie endlich ihre Toten abholen können. Einer von ihnen, Salem Ali, berichtete unter Tränen, dass er zwei Söhne verloren habe, die bei der Irakischen Nationalgarde (ING) gearbeitet hätten. Sie waren bei einem Anschlag im Süden Bagdads getötet worden. Viele Leichname würden gar nicht abgeholt, sagt Dr. Amin. »Früher, zu Zeiten von Saddam Hussein, haben wir unbekannte Tote bis zu zwei Monate aufgehoben, bis ihre Familien kommen und sie identifizieren konnten.« Wegen Platzmangel sei das unmöglich. Leichname, die nicht innerhalb von fünf Tagen von Angehörigen abgeholt würden, müssten beerdigt werden. »Wir notieren Auffälligkeiten an den Toten, das ungefähre Alter und die Todesursache für den Fall, dass doch noch Angehörige nach ihnen suchen.« Selbst USA-Präsident George W. Bush sprach kürzlich von 30 000 irakischen Ziviltoten, seit der seiner Meinung nach erfolgreiche Irakfeldzug im März 2003 begonnen hat. Die Menschenrechtsorganisation CIVIC (Campaign for Innocent Victims of Conflict, Washington) forderte von der USA-Regierung weitere Aufklärung über die zivilen Todesopfer in Irak. Es sei nicht nur Pflicht der Washingtoner Militärs, die Toten zu zählen und zu identifizieren, die Angehörigen müssten auch entschädigt werden, verlangt CIVIC. »Besonders die Zivilisten, die bei Operationen des USA-Militärs in Irak getötet worden sind, müssen statistisch erfasst werden.« Militärische Berichte nach den Kämpfen reichten nicht aus. Die mangelnde Dokumentation ziviler Todesopfer in Irak wird auch von den unabhängigen Untersuchungsgruppen »Oxford Research« und »Iraq Body Count« kritisiert, die bis zu 30 892 getötete Zivilisten gezählt haben. 30 Prozent seien in den ersten zwei Wochen des Krieges ums Leben gekommen. 20 Prozent der Opfer seien Frauen und Kinder, und rund 50 Prozent aller zivilen Toten hätten in Bagdad ihr Leben verloren. Mindestens 45 000 Menschen seien verwundet worden. Die Gruppe beziffert in ihrer jüngsten Studie (17. März 2003 bis 1. Dezember 2005) die zivilen Opfer in Irak je nach Quellenangaben zwischen 25 685 und 29 201. Die Zahl der getöteten irakischen Polizisten belaufe sich auf 1640. Zivile Tote in einem Krieg seien unakzeptabel, heißt es. Diese Tode müssten erfasst und untersucht werden. Iraq Body Count wird allerdings auch kritisiert, ihre Zahlen lägen weit unter den tatsächlichen Opferzahlen. Eine Studie im britischen Medizinerjournal »The Lancet« (Oktober 2004) ging nach einer Befragung von Familien in Irak davon aus, dass vermutlich mehr als 100 000 Tote als Folge der Gewalt im Zweistromland zu beklagen seien. Weniger als zehn Prozent der betroffenen Familien hätten Entschädigungen erhalten, kritisierte auch das Irakische Menschenrechtsministerium. Bisher liegt es im Ermessen des USA-Militärs, ob Opferfamilien entschädigt werden. Die Zahlung von Schmerzensgeld sieht auch die Oxford Research Group als notwendige Maßnahme. So sollten für die Stadt Falludscha Wiederaufbaufonds bereitgestellt werden, um Arbeitsplätze zu schaffen und die Würde der Einwohner wiederherzustellen. Bisher lebten viele der Falludscha-Flüchtlinge noch immer in Lagern und hätten bis zum heutigen Tag keine Wiedergutmachung erhalten.
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