Verleugnete Vergangenheit

Das südbadische Lörrach wirkt heute interkulturell - doch das war nicht immer so

  • Dirk Farke
  • Lesedauer: 3 Min.
Die Stadt Lörrach in Baden-Württemberg ist vielerorts ein Begriff. Ihre pittoresken Märkte, eine hervorragende Küche und das Stimmen-Festival haben Lörrach weithin bekannt gemacht. In einer Ausstellung wird nun ein Teil der Stadtgeschichte präsentiert, den man in Lörrach lange Jahre nicht wahrhaben wollte.

Lörrach, die Große Kreisstadt, die heute 49 000 Einwohner zählt und direkt vor den Toren Basels im Dreiländereck Deutschland, Frankreich und der Schweiz liegt, sieht sich als kulturelles und wirtschaftliches Zentrum der ganzen Region. Hier denkt man nicht deutsch, schweizerisch oder französisch, sondern regional, heißt es auf den einschlägigen Werbeplattformen.

Aber das war auch in dieser deutschen Stadt nicht immer so, wie eine aktuelle Ausstellung im Dreiländermuseum zeigt: Auf rund 400 Quadratmetern wird dort noch bis zum 13. Oktober die Ausstellung »Lörrach und der Nationalsozialismus« präsentiert. Bereits 1933 übernahm der überzeugte Nationalsozialist Reinhard Boos das Amt des Bürgermeisters. Boos spielte zusammen mit der übrigen Stadtverwaltung in der Zeit bis zum Jahr 1945 eine verhängnisvolle Rolle in Lörrach, lautet ein wichtiges Ergebnis eines dreijährigen Forschungsprojektes des Freiburger Historikers Robert Neisen im Auftrag der Stadt Lörrach. Das ist genau das Gegenteil zu dem Bild, welches Boos und andere Lörracher Chronisten in der Nachkriegszeit über Jahrzehnte aufrecht erhalten konnten, nämlich dass Boos ein vergleichsweise humaner und gemäßigter Vertreter der NS-Nomenklatura gewesen sei.

Genau 80 Jahre nach der Machtübertragung werden dieses und andere Forschungsergebnisse nun im Dreiländermuseum der Öffentlichkeit vorgestellt. Auf übersichtlichen Schautafeln sind - in verständlicher Form auch für den Laien - Neisens wichtigste Erkenntnisse zusammengefasst. Zahlreiche Originale vermitteln einen realistischen Eindruck über den Alltag in der Stadt. Thematisiert wird darüber hinaus auch die Nähe zur Schweiz und zum »Roten Basel«, das zum Fluchtpunkt vieler Verfolgter des NS-Terrorregimes wurde. Wie kaum an einem anderen Ort in Deutschland sahen sich die Nationalsozialisten in Lörrach an der Schweizer Grenze unmittelbar einem Land und einer Bevölkerung gegenüber, die nicht ihrem Herrschaftsbereich unterworfen waren.

Der anfänglichen Popularität des Nazi-Regimes in Lörrach sehr abträglich war - auch dieses Thema ist in der Ausstellung präsent - das erbärmliche Erscheinungsbild der Lörracher NSDAP und das Verhalten der örtlichen Parteigenossen. Betrunkene SA-Mitglieder verprügelten öffentlich zufällig daher kommende Passanten, Motor-Standarten der Partei bezahlten ihre Benzinrechnungen nicht und Parteifunktionäre schmuggelten große Mengen Kaffee über die Grenze.

Auch und vor allem Bürgermeister Boos verhielt sich nicht gerade, wie man es von lokalen Honoratioren erwartet. Er stellte seinen schwer kriminellen, neunfach vorbestraften Schwager und SA-Veteranen als Hilfsfeldhüter an. Die von Boos als Ratsherren eingesetzten »alten Kämpfer« missbrauchten ihre Macht dazu, Frauen sexuell zu belästigen und städtische Gelder zu veruntreuen, was Boos stets deckte. Die Zustände unter den Nationalsozialisten seien »schlimmer als unter den Roten« äußerte denn auch eine unvorsichtige Passantin aus Lörrach-Brombach, die dafür von Boos angezeigt wurde.

Der Autor Rolf Hochhuth vermutet in seinem Roman »Eine Liebe in Deutschland«, dass Boos im Zweiten Weltkrieg die Hinrichtung des polnischen Zwangsarbeiters Stanislaus Zasada mit Blick auf die Stimmung in der Bevölkerung in einen außerhalb Lörrachs liegenden Steinbruch verlegte.

Dennoch, wie überall sonst in Deutschland auch: Die Verfolgung und Ermordung von sogenannten »Asozialen«, von Juden und anderen Gruppen fand bis zum letzten Tag auch in Lörrach einen wichtigen Rückhalt in der Bevölkerung. Das gilt auch für die Kriegspolitik der Nazis.

Nach dem Krieg gab Boos zu seiner Rechtfertigung an, er habe sich angesichts der Fragestellung »Bolschewismus oder Deutschland als Sozialist und Deutscher für Deutschland und die NSDAP entschieden«. Im Jahre 1959 gelang es ihm noch einmal - disemal für die Freien Wähler - in den Gemeinderat zu kommen. Zunächst war er Nachrücker, dann jedoch wurde er Fraktionsvorsitzender. Nach anfänglichem Zögern stimmte der Gemeinderat der Aufnahme auch seines Porträts in die Galerie der Bürgermeister und Oberbürgermeister im Lörracher Rathaus zu.

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