Die Schärfe des Reaktionärs

Botho Strauß im »Spiegel«

  • Jürgen Amendt
  • Lesedauer: 3 Min.

Der Begriff »Plurimi« stammt aus dem Lateinischen und bedeutet übersetzt soviel wie »die meisten, sehr viele«. Dank des Internet ist dieses Wissen heutzutage allen zugänglich, man hat die Übersetzung leicht nach wenigen Sekunden ergoogelt, selbst wenn man kein Latein in der Schule hatte. »Die meisten« aber bedeutet auch »Masse«, und die Masse lässt in ihrer amorphen Gestalt dem einzelnen Widersprechenden keinen Raum mehr.

Soweit sind sich Konservative aller politischer Couleur einig. Sie sind Einzelgänger, Außenseiter, die sich dem ständigen Vorwärtstreiben, das ja in Wahrheit ein beständiges Laufen im Kreis ist, aus Eigenantrieb verweigern. Ein Hamsterrad sieht auch nur von innen aus wie eine Karriereleiter.

»Der Plurimi-Faktor - Anmerkungen zum Außenseiter« ist der jüngste Essay von Botho Strauß im aktuellen »Spiegel« überschrieben. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts sei der »Typus des Außenseiters aus Gesellschaft wie Literatur so gut wie verschwunden«, schreibt Strauß. Außenseiter ist ihm dabei gleichbedeutend mit Spitze, Avantgarde; anstelle der Wenigen haben sich die »Plurimi« zur Spitze erhoben, quasi aber dabei blind sind für die Vorgänge um sie herum, teilt Strauß aus seiner uckermärkischen Einsiedelei mit.

Die Leere, die der Einzelgänger um sich herum hat, schärft den Blick fürs Detail, das im gleichförmigen Rauschen der Medien sonst verborgen bleibt. Der Außenseiter schaut auf Dinge, deren Anblick schmerzt und Abwehr des Politisch Korrekten provozieren muss. Vor 20 Jahren, mit seinem ebenfalls im »Spiegel« veröffentlichten »Anschwellender Bocksgesang«, hat Strauß sich den Vorwurf des politischen Reaktionärs eingehandelt. Strauß steht zu dieser Zuschreibung, denn der Reaktionär »ist dem Wortsinn nach jemand, der reagiert - während andere noch stumm und willfährig bleiben«, heißt es in seinem aktuellen Essay.

Wenn Strauß 1993 vor der Selbstgefälligkeit warnte, mit der die nationalistischen Strömungen in Osteuropa »in unserer liberal-libertären Selbstbezogenheit für falsch und verwerflich« gehalten werden, so ist es jetzt die geistige Stumpfheit der sich Freie nennenden gegenüber der Welt außerhalb ihres säkularisierten Wertesystems. »Wir drängen den Gläubigen und Andersgläubigen neben uns unentwegt unsere Freiheiten auf, denken aber nicht daran, auch nur das Geringste von ihrer sittlichen Freiheitsbeschränkung nachahmenswert zu finden oder auf uns abfärben zu lassen. Das Abfärben soll nur einseitig geschehen.«

Abfärben, so viel sollte klar sein, ist nicht mit Anpassung, Unterwerfung gleichzusetzen. »Die meisten«, kritisiert Strauß, »wenden sich bereits mit Empörung ab, sobald ihrem gewohnten Lebensstil aus religiösen Gründen mit Distanz begegnet wird. Im Zuge des Bevölkerungswandels könnten sich andere Prioritäten herausbilden, als sie heute gültig sind.«

In diesem Sinne - und das ist die erschreckende Erkenntnis, die sich aber als konsequent erweisen könnte - ist der islamische Konvertit, der Außenseiter inmitten der säkularisierten Masse, der wahrhaftige Visionär.

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