nd-aktuell.de / 03.08.2013 / Kultur / Seite 18

Flucht aus Suburbia

Der Autor P.M. entwirft eine ökologisch-soziale Wohnform, die mit einer neuen globalen Ordnung verbunden ist

Mikroagro – ein »Agrozentrum« auf dem Land ist mit einem Wohnblock in der Stadt verbunden, der ein 1200 Quadratmeter großes »Mikrozentrum« für die kollektiven Ressourcen der 500 EinwohnerInnen enthält. Mit diesem Modell will der Autor P.M. den Planeten vor dem Kollaps bewahren. Andere, die eine alternative Lebensweise wollen, gründen Siedlungen abseits der Gesellschaft. »nd« hat welche in Tschechien und Polen besucht. Tauchen Sie ein in die Suche nach innovativen, sozialeren Wohnformen!

nd: Sie beschäftigen sich mittlerweile seit Jahrzehnten mit Wohnformen. Wie will die Mehrheit der Menschen in unseren Breitengraden wohnen?
P.M.: Wahrscheinlich in einem Einfamilienhäuschen auf dem Land, im Grünen, wo es möglichst keine anderen Einfamilienhäuschen gibt. Die gibt es dann aber doch, weil das sehr viele wollen. Und mit einem Auto oder zwei. Das ist die Utopie des Westens, das Suburbia, wie es in Amerika heißt. Das findet man überall - auch die Chinesen wollen so wohnen.

Dem setzen Sie ja eine eigene Utopie entgegen.
Ob das eine Utopie ist? Das glaube ich nicht. Ich versuche, die Leute zur Vernunft zu bringen. Das kleine, eigene Häuschen auf dem Land ist natürlich eine Fluchtreaktion auf die Zumutungen der industriellen Zivilisation. Man hat ja nirgendwo Platz, man hat nirgendwo was zu sagen, man wird überall herumkommandiert. Und dann will man sozusagen irgendwo der eigene Herr oder die eigene Herrin sein. Aber das stimmt ja gar nicht. Man hat dann nur das Problem mit den Zinszahlungen und den bösen Nachbarn. Ich glaube, die Leute sind jetzt auf der Flucht vor Suburbia, weil sie das nicht mehr aushalten. Auch in den USA.

Welche Fluchtbewegungen sehen Sie da?
Zum Beispiel, dass die Leute wieder in die Innenstädte ziehen. Es ist doch spannender dort. In New York sieht man das extrem. Auch in Zürich wollen alle Leute wieder in die Stadt. Die Stadtbevölkerung Zürichs hat in den letzten Jahren um fünf Prozent zugenommen.

In dem Modell, das Sie ausarbeiten, geben Sie dem eigentlich altbekannten Begriff »Demos« eine wahrscheinlich für die meisten Menschen neue Wendung, indem Sie sagen: Ursprünglich bedeutete Demos eine Dorfgemeinde, die kleinste Verwaltungseinheit einer Polis. Könnte das, was Sie als Nachbarschaft auf einem Hektar bezeichnen, nicht auch Demos heißen?
Genau. Ich habe versucht, das mit dem Begriff Demokratie zu verknüpfen. Ich sage, Demokratie ist nicht die Herrschaft des Volkes, sondern der Demen oder der Demoi, also jedenfalls der Plural von Demos. Antonio Negri und Konsorten haben jetzt die Demokratie entdeckt, und jede zweite Stadtrevolte auf der Welt verlangt mehr Demokratie. Aber was die Leute meinen, ist ja nicht die repräsentative alte Demokratie, die nicht funktioniert, sondern sie meinen eigentlich die Demokratie, die den Leuten wieder ihre Daseinsmächtigkeit gibt. Und die kriegt man zuerst einmal im unmittelbaren Umkreis, eben im Demos. Natürlich müssen die dann zu größeren Einheiten verknüpft werden. In diesem Rahmen kann man auch wieder konkret über Produktions- und Reproduktionsmittel verfügen. Dann gibt es auch wieder Macht, die Macht kommt aus der direkten Interaktion im Alltag. Diese These geht schon zurück auf die alten Griechen. Die waren auch so organisiert. Natürlich war das patriarchalisch, nur die Männer hatten was zu sagen. Und sie hatten Sklaven, das waren noch einmal so viele wie sie selbst. Das sind heute unsere Energiesklaven - da haben wir etwa 80 pro Person.

Was meinen Sie mit Energiesklave?
Demokratie ist immer ein Luxusprodukt. Wenn absoluter Mangel herrscht, oder Katastrophen, Krieg, hat man meistens autoritäre Regimes. Wenn aber ein gewisser Spielraum besteht, um sich zu treffen und zu diskutieren, wenn ein ökonomischer Überschuss besteht, dann ist Demokratie möglich. Dass die alten Griechen das zum ersten Mal hatten, beruhte darauf, dass sie die Sklaven ausbeuten konnten. Die arbeiteten dann auf ihren Äckern, während sie die interessanten Diskussionen führten. Wir können das jetzt auch wieder: Die westliche Demokratie funktioniert - noch - deshalb, weil wir Energien mobilisiert haben: zuerst Kohle und dann noch nukleare und andere Energien, vor allem Erdöl. Wir verbrauchen permanent eine Grundlast von 8000 Watt pro Person. 100 Watt sind aber ungefähr das, was ein Mensch leistet. Darum komme ich auf 80 Energiesklaven, die wir in den globalen Metropolen haben.

Sie freuen sich in dem Buch auf die »endgültige und notwendige Stagnation des industriellen Wachstums« ...
Genau.

... Wie nehmen Sie die hiesige Bewegung der Wachstumskritik wahr? Und wie sieht die in der Schweiz aus?
Ich war 2012 in zwölf deutschen Städten auf Vortragsreise. Da war überall klar, dass man nicht ewig wachsen kann. Das ist ja so langweilig, dass man gar nicht mehr darüber diskutieren kann. Das waren also zwei-, dreihundert Leute in Deutschland und ebenso viele in der Schweiz. Ich würde aber behaupten, dass 80 bis 90 Prozent der Leute das unterschreiben würden. Wachstumskritik ist Mainstream.

80 bis 90 Prozent der Gesamtbevölkerung?
Ja. In Zürich hatten wir eine Volksabstimmung über die Einführung der 2000-Watt-Gesellschaft. 2000 Watt ist ein Viertel des heutigen Verbrauchs eines Menschen. Da haben die Stimmberechtigten der Stadt Zürich zu 76 Prozent mit »Ja« gestimmt. Also nicht nur kein Wachstum - das ist ja eine vierfache Schrumpfung. Wenn man die Energie abstellt, dann schrumpft ja alles mit. Dass die Leute genug haben von dieser Hetzerei ist völlig evident, dazu muss ich gar nichts mehr sagen. Wachstumskritik ist normal. Vielleicht die Einzigen, die das nicht normal finden, sind die Politiker und die Ökonomen - und natürlich die Unternehmer.

Zum ersten Mal veröffentlichten Sie Ihre aktuellen Entwürfe mit Bezug auf die Schweiz, und zwar 2008 in dem Büchlein »Neustart Schweiz«. Es gibt mittlerweile auch einen Verein, der so heißt. Was machen Sie da?
Wenn wir das wüssten! Wir machen eigentlich hauptsächlich Bildungsarbeit. Und wir reden mit Politikern, das passiert immer mehr. Wir haben über 300 Mitglieder in der ganzen Schweiz. Die regionalen Gruppen sind aber völlig autonom. Die mischen sich überall dort ein, zum Beispiel immer, wenn in einem Ort das Thema Nachbarschaften aktuell wird. Wir haben in Basel und in Zürich zwei Genossenschaften gegründet, um solche Modell-Nachbarschaften zu bauen. Wenn irgendwo ein Areal frei wird, dann suchen wir uns Politiker, die uns unterstützen. Wir wissen noch nicht genau, was die Funktion dieses Vereins ist, aber er hat ein sehr klares Programm, viele interessante Leute und knüpft viele Kontakte. Wir machen auch öffentlichkeitswirksame Veranstaltungen, zum Beispiel mit David Graeber. Außerdem arbeiten wir sehr eng mit Universitäten und Fachhochschulen zusammen, um Studien in Auftrag zu geben, die man dann anwenden kann, zum Beispiel um zu wissen, wie man ein Mikrozentrum organisiert. Wir machen also auch ein bisschen Forschung und Entwicklung.

Wie wohnen Sie eigentlich?
Ich wohne in einer Genossenschaft, die ich mitgegründet habe. Das sind 280 Leute, in einem Plattenbau, würde ich mal sagen - ein großes, wuchtiges Teil, acht Stockwerke hoch.

Da wohnen die 280 Genossenschaftsmitglieder zusammen?
Ja. Einige arbeiten auch da. Es gibt Arbeitsplätze für 50 Leute, hauptsächlich im Bereich Forschung und Architektur - nichts Handwerkliches momentan. Wir haben es mal mit einer Schneiderei probiert, aber die hat nicht gut funktioniert. Ich bin mit zuständig für die Lebensmittelversorgung.

Sie haben da also auch eine Art Mikrozentrum?
Ja, das ist so ein Projekt. Aber es kommt schon langsam. Man muss aufpassen, dass man nicht in die Avantgarde-Falle tappt. Wir sind sehr vorsichtig. Wir sind kein Avantgarde-Projekt wie die Kommune Niederkaufungen. Wir machen nur so viel, wie normale Leute auch machen würden. Das hat dann manchmal zur Folge, dass wir nicht sehr viel Interessantes machen. Wir haben aber schon diese Landgenossenschaft mit dem Gemüse. Ich bin jetzt völlig kaputt, weil ich vorgestern fünf Stunden gejätet habe und mir einen Sonnenstich geholt habe. Ich war der Älteste und natürlich wieder der Dümmste.

Ich wohne mit meiner Partnerin in einer Vier-Zimmer-Wohnung. In unserer Genossenschaft haben wir alles: Zwei-Zimmer-Wohnungen, aber auch drei Groß-WGs mit je 14 Zimmern. Das sind Wohnungen, die über mehrere Stockwerke gehen, mit interner Treppe. Einige Leute wohnen einzeln. Es ist also eine Mischung von verschiedensten Wohnformen. Das ist die Zukunft. Ich habe keine Meinung zu Wohnformen - ob einer alleine in seinem Zimmerchen wohnt und man ihn nur alle 14 Tage sieht oder ob er jeden Tag fünf Stunden am großen Tisch sitzt, das spielt für mich keine Rolle.