Wahrheitssuggestion in der Endlosschleife

MEDIENgedanken: Journalistischer Wiederholungszwang

  • Harald Kretzschmar
  • Lesedauer: 4 Min.

Erinnern wir uns doch ein wenig: Welche Gesetze für die journalistische Praxis galten in den Zeiten dazumal? Ich meine, als sie Tummelplatz für kollektive Agitatoren und Propagandisten im Dienste des Marxismus-Leninismus war. Da gab es ein ehernes, das da lautete: Wiederhole ständig das, was wir für wahr und richtig befinden, dann wird es bald (oder irgendwann) jede und jeder ebenfalls für wahr und richtig halten.

Das ist lange her. Nun herrscht allerorten die Freiheit der Meinungsäußerung. Niemand beansprucht ein Wahrheitsmonopol. Wer könnte denn da eine Lesart vorschreiben? Völlig undenkbar. Das regelt sich im Selbstlauf. Beharrungsvermögen und Harmoniebedürfnis tun das Übrige. Eine bestimmte Deutung blindlings übernehmen? Womöglich stets wiederholen? Das kann höchstens aus liebgewordener Gewohnheit geschehen. Das Verfahren ist längst demokratisiert: Man verhält sich wie die Leute auf der Straße. Wenn die mit einer suggestiven Frage überfallen werden, dann antworten sie wunschgemäß.

Die journalistische Verwertung dieser freudevollen Zustimmungssprüche geschieht spielend. Man fotografiert auch nur lächelnde Menschen, die Freundlichkeit ausstrahlen. Vorsatz oder gar Vorschrift muss da gar nicht obwalten. Kritische Bemerkungen schrecken eben bloß auf. Wenn wir die Sonne loben und den Regen beklagen, verwenden wir alle dieselben Worte. Journalismus macht das populär. Literatur verhält sich anders - zur Strafe wirkt sie elitär. Welch eine Kluft klafft dazwischen! Kunst und Literatur wiederholen gar nichts. Sie sind Innovation pur. Oder aber doch gleich Kopie.

Mit inzwischen klassischen Theaterstücken dagegen ist das völlig anders. Da ist keinerlei Wiederholung irgendeiner Aufführungspraxis opportun. Entweder oder. Da gibt es kein Pardon. Wir haben unsere Wiederholungsreservate, und damit basta. Nazis haben Nationalsozialisten zu heißen. DDR hat ehemalig zu sein sowie SED-Diktatur. Und wir ruhen nicht, ehe wirklich alle kapiert haben, dass bei Richard Wagners Musik immer Hitlers Beifall mit zu hören sein hat. Kein Mensch genießt mehr Heinrich von Kleists Texte, ohne bibbernd Freitod mitzudenken. Das Prinzip ständiger Wiederholung feiert Orgien.

Das sind ja nur die Künstler. Einzelne Politiker erfreuen sich erst recht unserer Sehnsucht nach vereinfachender Wiederholung. Im Prinzip sind wir unkritisch. Aber wenn wir ein Opfer finden, dann geht es gründlich zur Sache. Immer derselbe Vorgang: Eine Person entdeckt eine sonderbar auffällige, bisher unbemerkte Verfehlung, hängt sie an die große Glocke - und sofort läuten alle Glocken Sturm. Der Wiederholungszwang schwappt sofort durch alle Talkshows. Angela Merkels Blauhemd zählt da genauso viel wie eine verletzte Vorhaut. Wir erschauern gemeinschaftlich - was, der war bei der Waffen-SS? Wir sind halt in schöner Wiederholung erschüttert. Wladimir Putin benimmt sich nicht als lupenreiner Demokrat? Na so was! Ein publizistisches Dauerthema. Ununterbrochen dürfen wir die Verwunderung darüber genießen - und das Mitleid mit einem von Putin gequälten kriminellen Multimillionär gleich dazu.

Ja, und ganze Länder dieser lieben Erde werden journalistisch so erledigt, dass ständig wiederholbare Pauschalurteile sich verfestigen können. Von genaueren Informationen über gewisse Länder das Nahen Ostens erfuhren wir zu unserer Überraschung bis vor kurzem noch von einem Experten wie Peter Scholl-Latour. Dieser Alarmist des kritischen Details störte offenbar die Kreise des etablierten Wohlverhaltens so, dass seine Attacken zunehmend von offiziösen Bedenkenträgern gekontert werden mussten. Nunmehr aufs Altenteil entsorgt, kann er nicht mehr stören. Denn um Parlamentsbeschlüsse zum Eingreifen in Konflikte möglich zu machen, ist man auf Mehrheitsmeinungen angewiesen. Da ist Konsens über Gut und Böse gefragt. Da stört, wenn plötzlich die Guten auch böse sein oder die Bösen auch etwas Gutes haben könnten. Auf wen sollen denn dann die zu liefernden Waffen noch gerichtet werden? Das sind doch Existenzfragen.

Ganz abgesehen davon, dass das Heutige bald vergangen sein wird und dann die Phalanx der Geschichtsschreiber anrückt. Historiker stellen sich als populär - also pseudowissenschaftlich argumentierende Experten den Medien zur Verfügung. Diese bevorzugen schließlich schlichte, geradlinige und leicht reproduzierbare Aussagen. Wir erleben es doch an der eigenen Vergangenheit. Die Lehren daraus sind nur vermittelbar, wenn die alten Feindbilder in ständiger Wiederholung weiter reproduziert werden. Koste es, was es wolle. Wenn noch so viel Widerspruch authentischer Zeitzeugen kommt - was wir für wahr und richtig halten, genau das soll auch vermittelt werden.

Der Autor ist Zeichner, Buchautor und nd-Karikaturist.

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