Der Kapitalismus, die Linken und die Zeit-Diebe

Vor dem Epochenbruch - zu Tiefe, Dauer und Perspektive der gegenwärtigen Krise

  • Manfred Sohn
  • Lesedauer: 8 Min.

Als die bürgerliche Welt 2008 noch abwiegelte, dies sei zwar eine schwere Krise, sie sei aber bald vorbei, haben verschiedene Kräfte auf der Linken das bestritten und zu Protokoll gegeben, dies sei in den Auswirkungen nur vergleichbar mit dem, was den großen Krisen von 1873 oder 1929 folgte.

Diejenigen, die diese Position vertreten haben - der Autor dieses Artikels gehört dazu - haben sich zu korrigieren. Es mehren sich die Anzeichen dafür, dass diese Krise nicht nur keine normale zyklische Krise ist, sondern dass sie anders als frühere große Krisen nicht zu einer anderen Variante des Kapitalismus führt. Im folgenden soll lediglich ein Satz begründet werden: Wir erleben in diesen Monaten und Jahren den Beginn der finalen Krise des kapitalistischen Systems.

Wir Linken haben uns angewöhnt, Angst vor diesem Satz zu haben. Zu oft haben wir »das letzte Gefecht« besungen, gekämpft und sind dann geschlagen von dannen gezogen, in den Ohren den Spott derer, die erleichtert oder höhnend die Wiedergeburt des Kapitalismus in neuer Kleidung feierten. Aber nicht nur einzelne Symptome, sondern auch eine genauere Untersuchung zeigt, dass dieses System in den vor uns liegenden Jahrzehnten auf seine innere Schranke aufläuft, an der es zerbricht. Wir stehen am Rande des großen Epochenbruchs.

Um zu begreifen, was passiert, gehen wir zunächst zurück ins Jahr 1857, in dem eine in ihren Ausmaßen bis dahin unvorstellbar große Krise Karl Marx dazu trieb, krank vor Müdigkeit in den Nachtstunden zwischen Oktober 1857 bis März 1858 die heute 1000 Druckseiten starken »Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie« zu schreiben. Dort analysiert er die Mechanismen, die die innere Widersprüchlichkeit des Kapitalismus an einen Punkt treiben würden, an dem er aufhören muss, zu funktionieren.

Einer der zentralen Begriffe in den »Grundrissen« ist das Wort »Schranke«. Das innere Grundgesetz aller kapitalistisch organisierten Gesellschaften ist die jedem ordentlichen Kapitalisten in Fleisch und Blut übergegangene Zwanghaftigkeit, aus vorhandenem Geld mehr Geld zu machen. Deshalb muss er bei Strafe des Untergangs beständig die Schranken der Produktion ausweiten, immer mehr Maschinen mit lebendiger Arbeit kombinieren, um zu wachsen.

Kapital selbst bildet keinen Wert. Alles, mit dem wir unsere menschlichen Bedürfnisse befriedigen, entstammt der produktiven Kombination von Natur und lebendiger menschlicher Arbeit. Die Natur ist vor uns da und bildet einen Wert nur, wenn wir sie - sei es durch das Abpflücken des Apfels oder durch etwas kompliziertere Prozesse - für unsere Bedürfnisbefriedigung erschließen. Die wertbildende Substanz, die in jeder Ware, die wir konsumieren, enthalten ist, ist also lebendige menschliche Arbeit.

Getrieben durch die Konkurrenz muss der Kapitalist, um produktiver zu werden, aber beständig menschliche Arbeit entweder immer billiger machen oder aus dem Produktionsprozess verdrängen. In der Perspektive führt das dazu, dass der Kapitalismus an diesem inneren Widerspruch kollabiert. Marx hatte - die revolutionäre Ungeduld vieler seiner Nachfolger ebenso vorwegnehmend wie viele ihrer Gedanken - schon bei der großen Krise 1857 erwartet, dass das System auf dieser inneren Schranke aufläuft und entgleist - deshalb sein wütendes Schreiben, um mit »der ökonomischen Scheiße« fertig zu werden, bevor die aus seiner Sicht unvermeidliche Revolte der Massen gegen die Unerträglichkeit der Krise beginnt.

Wenn nun aber Arbeitskraft als die einzige wertbildende Substanz beständig aus dem kapitalistischen Produktionsprozess herausgedrückt wird, kann der Zeitpunkt, zu dem dieser ökonomische Mechanismus nicht mehr funktioniert, herausgezögert werden, wenn völlig neue Produktionsfelder erschlossen werden, in die diese freigesetzte Arbeitskraft hineinströmen und - nur dann funktioniert das - dort wertbildend von anderen (oder denselben) Kapitalisten eingesetzt werden kann.

Genau das aber ist die letzten 150 Jahre kapitalistischer Geschichte passiert: Er hat beständig entweder bisher von ihm noch nicht unter den Pflug genommene Gebiete rund um den Globus erschlossen oder ganz neue Industrien aus dem Boden gestampft, in denen massenhaft menschliche Arbeitskraft verwertet werden konnte. Aber - so Marx eben schon am Beginn dieses Prozesses - dies kann das Scheitern nur hinauszögern, nicht verhindern.

In Südeuropa wird gegenwärtig unter Schmerzen das normal, was seit Jahrzehnten anderswo schon normal geworden ist und was in der Perspektive auch in Deutschland normal werden wird: Dass die Mehrheit der Menschen überhaupt keinen Kapitalisten mehr findet, der ihre Arbeitskraft kauft. Die massenhafte und lebenslange Freisetzung von Arbeitskräften fräst sich gegenwärtig von der Peripherie des Kapitalismus in seine Zentren hinein.

Warum verflüchtigt sich die Lohnarbeit jetzt so dauerhaft? Drei Dinge vor allem sind anders als in allen hinter uns liegenden Jahrzehnten, in denen der Kapitalismus unbesiegbar schien.

Die brutalste und ökonomisch wirkungsvollste Bereinigung von Überkapazitäten, die sich vor Krisen aufbauen, ist der Krieg. Seitdem am 6. August 1945 um 8:15 Uhr über Hiroshima eine Atombombe explodierte, scheidet ein großer Krieg als Mittel gegen die große Krise aus.

Lebensverlängernd für den Kapitalismus haben zweitens die Erfolge der Arbeiterbewegung gewirkt. Dieser Effekt schwindet seit unserer großen Niederlage von 1989 nun seit über 20 Jahren.

Dem viel zu früh verstorbenen Robert Kurz gebührt das Verdienst, für den deutschen Sprachraum den dritten, letztlich entscheidenden Faktor herausgearbeitet zu haben. Während auf die erste, dampfkraftgetriebene industrielle Revolution ein Schub neuer Waren in Form von Eisenbahnen, Brücken, eisernen Gebrauchsgegenständen und auf die zweite, elektrogetriebene ein Schub in Form von Massenelektrifizierung von Haushalten und verbunden mit der Entwicklung der Verbrennungsmotoren nach 1945 dann auch noch ein Schub der Individualmotorisierung folgte, gibt es einen solchen Effekt nach der dritten großen industriellen Revolution, die im Gefolge der Mikroelektronik über uns hinwegrollt, nicht. Das lächerliche Handygebimmel hat weder akustisch noch ökonomisch das Niveau von Dampfloks, Strommasten oder dem Model T.

Weil also kein Land in Sicht ist, das noch für den Kapitalismus erschlossen werden könnte, weil es auch keine neuen arbeitsintensiven Massenprodukte gibt, für deren Erzeugung die von der Mikroelektronik überflüssig Gemachten zu Millionen eingesetzt werden könnten, setzt sich das bereits von Marx enthüllte Gesetz durch, nach dem der Kapitalismus aufgrund der ihm innewohnenden Mechanismen zwangsläufig die einzige Ressource, die wertbildend ist - die menschliche Arbeitskraft -, zum Verdursten in die Wüste oder zum Ersaufen ins Mittelmeer schickt.

In Michael Endes wunderschöner Geschichte »Momo« sind zum Lachen unfähige Männer in grauen Anzügen unterwegs, um die Zeit zu stehlen. Die sich derzeit unverdrossen zu Krisengipfeln versammelnden Typen, die allesamt das Zeug haben, künftigen Generationen als je nach Stimmung alberne oder bedauernswerte Wesen aus einer zum Glück untergegangenen Epoche zu erscheinen, haben nicht nur äußerlich Ähnlichkeit mit diesen Zeit-Dieben.

Es ist menschlich und in gewisser Weise für Leute, die nur tagestaktisch zu denken in der Lage sind, auch politisch verständlich, aber dennoch grundfalsch, zu glauben, durch Eingrenzung der Spekulation die kapitalistische Krise beherrschen zu können. Das ist so als glaubte jemand, mit der Senkung des Fiebers alle Krankheiten beseitigen zu können.

Nichts wäre politisch von links idiotischer als die demnächst so sicher wie das Amen in der Kirche kommende Einladung anzunehmen, sich den Zeitkäufern anzuschließen und durch irgendwelche währungspolitischen Operationen zu versuchen, dem Sterbenden doch noch etwas Zeit zu retten. Statt sich die Hände an solch sinnlosen OPs blutig zu machen, wird die Linke zumindest in dieser Hinsicht ein bisschen auf den alten Hermann Hesse zu hören haben, der Siddhartha sagen lässt: »Ich kann denken. Ich kann warten. Ich kann fasten.«

Die Ausprägung der Krise, die sich seit nun mehr als 30 Jahren aufgebaut hat, wird ihre Zeit brauchen und das Durchkämpfen zu einer neuen geschichtlichen Formation, die die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse in kollektiver, solidarischer Anstrengung organisiert, wird nicht in Monaten, Jahren oder Jahrzehnten erledigt sein, sondern einige Generationen in Anspruch nehmen.

Linker Politik muss nur die Kleinigkeit gelingen, sowohl die Lohnabhängigen als auch diejenigen gegen den Kapitalismus zu organisieren, die von ihm ausgespuckt und verachtet werden. Das fällt umso leichter, weil sie das ja schon selber tun: Keine der an allen Ecken auch dieser Republik keimenden Bewegungen, ob nun Miethäusersyndikate, Genossenschaften oder Frauengruppen versteht sich als pro-kapitalistisch. Es gibt noch keine Einigkeit über das, was Kapitalismus ersetzen kann. Aber es gibt eine wachsende Einigkeit, dass das Leben auf diesem Planeten kapitalistisch nicht mehr organisiert werden kann.

Wann geht’s los? Deutschland ist nicht der Mittelpunkt der Welt. Aber Deutschland ist kurioserweise im Moment das Mittelzentrum, was - unter Anspannung und Überdehnung all seiner politischen und ökonomischen Kräfte - im Moment alles tut, um den nächsten Krisenschub wenigstens um einige Monate hinauszuschieben.

Der einstige Chefvolkswirt der Europäischen Zentralbank, Jürgen Stark, der mit großem Knall 2011 seinen Rücktritt erklärt hatte, hat vermutlich recht, wenn er sagt: »Ich glaube, die Krise wird sich im Spätherbst zuspitzen. Wir werden in eine neue Phase der Krisenbewältigung eintreten.« Nur wie er auf den Begriff »-bewältigung« kommt, ist ein Rätsel. Gar nichts wird bewältigt werden.

Recht behalten wird vielmehr Rosa Luxemburg, die das voraussah, was jetzt Realität wird: »Die Realisierung und Kapitalisierung des Mehrwerts verwandelt sich in eine unlösbare Aufgabe.« Die Sackgasse ist da. Möge die Linke sich den Stürmen, die jetzt kommen, als würdig erweisen.

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