Der analoge Krieger

J. Krawietz bringt sein neues Album auf Kassette raus – und ist nicht allein

  • Marlene Göring
  • Lesedauer: 6 Min.
J. Krawietz ist Indietronic-Künstler. Sein neues Album »Shapes« gibt es als Download im Internet – aber auch auf 100 Kassetten.
J. Krawietz ist Indietronic-Künstler. Sein neues Album »Shapes« gibt es als Download im Internet – aber auch auf 100 Kassetten.

Wo man hinsieht Bierflaschen und halbleere Whiskeygläser. Der Dielenboden ist abgewetzt, auf ihm überquellende Aschenbecher und Müll. Mittendrin liegt ein junger Mann auf dem Rücken, blickt mit leeren Augen an die Decke. Schwankt durch dunkle Zimmer, kippt ein Glas, raucht. Über allem: ein Teppich aus Gitarrensphären und wummernden Trommeln.

Heute glänzt der Boden in der Wohnung von Songschreiber J. Krawietz‘ in Berlin-Friedrichshain. Auf dem Küchentisch dampft ein Kännchen Tee, die Sonne scheint durchs Fenster. Die Bukowskischen Szenen entstammen dem neuen Musikvideo des Künstlers.

»Litost« heißt das Lied zum Video, ein tschechisches Wort, das sich kaum übersetzen lässt. Für den Spanier ist es »der Zustand der Zermarterung, wenn man sich der eigenen Unangemessenheit bewusst wird.« Das ist für Krawietz nichts Negatives. »Erkenntnis – auch, dass man sein Leben vergeudet – heißt immer Freiheit.« Sein neues Album »Shapes« ist düster – mehr als Krawietz’ Erstlingswerk. Und mehr, als es im Indietronic üblich ist, der oft Partymusik ist.

Die Community wächst – unter dem Radar der Industrie

Auch sonst ist »Shapes« anders, das kann jeder sehen, der es in der Hand hält: Es ist eine Magnetbandkassette. Wer die Kassettenversion kauft, bekommt einen Download-Link dazu. Aber nur digital funktioniert nicht. »Du brauchst einen physischen Träger«, meint Krawietz. Das hat nicht nur ästhetische Gründe. »Wenn jemand nach dem Konzert deine Platte haben will, und du schickst ihn zu iTunes – dann kauft er nie.«

Sein erstes Album hat er deswegen auf USB-Stick vertrieben. Ein Fehler: »Das war viel teurer als erwartet.« Diese Überraschung gab es mit der Kassette nicht. Sie ermöglicht die kostengünstige Produktion kleiner Auflagen, schon ab 20 Stück. Bei einer CD geht es ab etwa 300 los. »Da sitze ich bis zum Lebensende drauf.« Das Medium Kassette war für Krawietz eine praktische Entscheidung, keine nostalgische. Aber er kann den Kultstatus verstehen. Die Kassette ist klein, stabil und hat den Charme eines Unikats. »Perfekt für Leute wie mich, die unter dem Radar der Industrie produzieren.«

Dabei wurde die Musikkassette gerade erst totgesagt. »Kassetten sterben« titelte zum 50. Geburtstag der MC Anfang des Monats die »taz« – und zitierte damit den Bundesverband Musikindustrie, traditionell Vertreter der Größen der Branche. Kinderkassetten an der Supermarktkasse, das sei noch das einzig interessante Geschäft. Woanders klingt das anders: In Großbritannien wurden 2012 dreimal so viele Kassetten verkauft wie im Jahr davor. Die USA melden einen Sprung bei den verkauften Tonbändern um 645 Prozent im selben Zeitraum.

Eingestrickt in Wolle

Genaue Zahlen sind aber nicht zu bekommen. Mal abgesehen von Nordafrika und Teilen von Asien, wo bis heute Musik meist im Zigarettenpäckchenformat gehandelt wird: Die sanfte Wiederkehr des Kultobjekts in den USA und Europa spielt sich jenseits von Barcodes bei den kommerziell unerheblichen Veröffentlichungen ab. »Jede Woche kommen zwei, drei neue Kassettenlabels dazu«, sagt Guillome. In seinem Berliner »Staalplaat Store« stapeln sich neben Vinyls und Kunstdrucken die kleinen Kästen: eingepackt in Röntgenbilder, eingestrickt in Wolle oder im Minischraubstock eingeklemmt.

Jede Kopie ein kleines Kunstwerk. Do it yourself – das trifft nicht nur auf die Musik zu, sondern auch auf ihre Verpackung. Im DIY liegen die Wurzeln der MC. Mixtape – das war in den 1980ern ein Lebensstil. Rinus van Alebeek, Betreiber des Kassettenlabels »Staaltape«, das im Plattenladen vertrieben wird, kann sich gut daran erinnern. Seit 2010 veranstaltet er wieder »tape runs«, eine Art Kettenbrief auf Kassette, bei der jeder ein Lied ergänzt, bevor er ihn weitergibt. In Brüssel, Paris und Berlin sind sie schon gelaufen, Montreal steht kurz vor dem Abschluss so einer Edition.

»Ich sehe so viele neue Kassettenlabels, Neuveröffentlichung und etablierte Labels, die zur Kassette zurückkehren«, bestätigt Matt von Suplex Records und meint damit nicht bekannte Einzelbeispiele wie MGMT, die kürzlich ein Kassettenalbum rausgebracht haben. Auch das britische Label Suplex ist auf Kassetten spezialisiert. Anfang September hat Suplex gemeinsam mit zwei US-amerikanischen Labels den ersten »Cassette Store Day« (CSD) veranstaltet. »Wir wollten den kleinen Bruder der Schallplatte, den anderen analogen Krieger feiern.« Weltweit gab es Konzerte, Partys und Radiosendungen, mit Musik nur vom Tonband. Der 50. Jahrestag sei zufällig zum gleichen Zeitpunkt gewesen, der internationale CSD soll ab jetzt jedes Jahr stattfinden.

Magnetband ist Punk Rock, die Cloud gruselig

Raoul de la Cruz hatte 1995 schon ein MC-Label, Popgun Records, gerade fängt er wieder an. »Die Leute wollen einfach wieder etwas Greifbares, Reales«, erzählt der Kalifornier. »Online und ›in der Cloud‹ wird jeder und alles zum Ewig-Gleichen.« Gruselig sei das. Kassetten aber seien subversiv, eben Punk Rock: »Jeder kann damit Musik produzieren, aufnehmen, das Spiel der Industrie nicht mitspielen.« Musikklauen ist mit der MC sogar noch einfacher als digital. Per REC-Knopfdruck, ohne dabei verräterische Spuren wie IPs zu hinterlassen. Zwar hat Sony die Walkman-Produktion eingestellt. »Aber es wird länger als ein Leben dauern, bis alle Abspielgeräte irreparabel kaputt sind.«

»Die Kassette war nie weg«, versichert Labelbetreiber van Alebeek. Seit etwa zwei Jahren gebe es immer mehr Kassettenliebhaber. »Wir hatten ja auch 15 Jahre Werbung«, lacht der Niederländer und meint das Plastikgehäuse, das zum Modeemblem auf T-Shirts und Taschen geworden ist. »Es muss etwas mit den Dimensionen der Kassette zu tun haben, das sie so anziehend macht.« Viele, die heute auf Kassette umsteigen, sind unter 30: »Leute, die das Medium nicht mit Michael Jackson entdeckt haben, sondern mit experimenteller Musik.«

Traditionell sind es Noise- oder Lo-Fi-Künstler, die das Medium bevorzugen. Es entspricht dem Experimentcharakter, den auch die Genres haben. Manche Künstler geben sich große Mühe, durch professionelle Aufnahmetechniken den besten Sound rauszuholen – aus einem Tonträger, der für viele per se den schlechtesten Klang hat. Van Alebeek lässt dieses Argument nicht gelten. »Ich liebe gerade das Krautige daran«, betont er. Leiern und Kratzen sind für ihn einfach Spuren der Zeit. »Digitale Formate gaukeln Zeitlosigkeit und Perfektion vor, aber das ist eine Lüge.«

Inspiriert von einer US-Bilderbuch-Hausfrau

J. Krawietz zählt sich nicht zur Kassetten-Community und dem Milieu, in der sie angesiedelt ist. Dafür sei er nicht experimentell genug, scherzt er: »Die machen Musik mit einer Plastikröhre und einem Wäscheständer.« So weit entfernt ist er davon aber gar nicht. Zwar haben seine Stücke Song-Strukturen und Gitarrenharmonien. Aber den Hintergrund bilden Alltagsgeräusche, in DIY-Manier alle selbst aufgenommen. »Ich wollte die Lieder in einen Kontext setzen.« Wie in »Housewives Bliss«: Eine US-Bilderbuch-Hausfrau hat ihn zu dem Stück inspiriert.

In einem Youtube-Video kann man ihr heute beim LSD-Rausch zusehen, induziert vom Militär in den 1950er Jahren zu wissenschaftlichen Zwecken. »Ich habe mich gefragt, was nach dem Experiment aus ihr geworden ist«. Zerspringende Gläser und Wäschetrommelrauschen bilden die Struktur des Liedes.

Wer die Kassettenausgabe von »Shapes« tatsächlich einlegt, wird überrascht: Nicht die Stücke des Digital-Downloads sind dort zu finden, sondern die, die es nicht auf das Album geschafft haben, samt Erklärungen zur Aufnahmetechnik. »Wenn man eine Platte hört, bemerkt man den Prozess dahinter nicht.« J. Krawietz hat ihn zurückgebracht – auf Kassette.

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