nd-aktuell.de / 23.09.2013 / Kultur / Seite 15

Die Deutschlandtherapeutin

Wie Angela Merkel, die alte und wohl neue Bundeskanzlerin, unbeirrt von Triumph zu Triumph eilt

Thomas Blum

Wir alle in dieser Demokratie müssen dankbar sein für etwas über Jahrhunderte hinweg mühsam Erkämpftes: die Pressefreiheit, die Freiheit, Druckwerke zu publizieren, ein hohes Gut, das es um jeden Preis zu erhalten gilt. Was wären wir heute ohne den Todesmut der vierten Gewalt, der tapferen Journalisten, die, ohne den Konflikt mit den Mächtigen zu scheuen, gründlich recherchierte, kritische Sachbücher verfassen, in denen sie kein Blatt vor den Mund nehmen, sondern in klarer Sprache und unter großem persönlichen Risiko die Wahrheit ans Licht der Öffentlichkeit zerren? Desinformierte Narren wären wir, getäuscht vom Glanz des schmeichlerischen Geschwätzes und Geschreibsels der Hofberichterstatter und Reklamesoldaten!

Es gibt jedoch Journalisten, die sich in ihrer Arbeit der Aufklärung und dem Zertrümmern des tückischen Blendwerks, das uns umgibt, verpflichtet sehen: Schaut her! So geht es zu in der Welt! So sieht sie aus! Glaubt nicht der allgegenwärtigen Lüge und Propaganda, die euch täglich aufs Neue einlullt!

Einer dieser mutigen Verbreiter der Wahrheit ist Ralph Bollmann, der von der Pike auf gelernt hat, was es heißt, Gegenöffentlichkeit zu organisieren. Nachdem er jahrelang im Lokalteil der undogmatischen linken Tageszeitung »taz« gestählt und dort mit den Geheimnissen des kompromisslos kritischen Journalismus vertraut gemacht worden war, durfte er »als Parlamentskorrespondent der ›taz‹ jahrelang die Kanzlerin begleiten«, wie wir dem Klappentext seines neuen Buches entnehmen.

Was schreibt nun Herr Bollmann über unsere Kanzlerin? Was hat er Brisantes über sie zu enthüllen? Welche Lügen hat er gefunden auf seiner Reise auf die dunkle Seite der Macht? Er schreibt: »Ihre Vorliebe für Richard Wagner, den deutschesten aller Komponisten, hat Merkel schon lange kultiviert.« (S.12)

Des weiteren erfahren wir, dass die Bundeskanzlerin, so heißt es auf »taz«-Deutsch, »immun gegen eine kritiklose Bewunderung der Wirtschaftseliten« (S.19) ist, was wahrscheinlich bedeuten soll, dass sie die Wirtschaftseliten nicht kritiklos bewundert.

Sie ist »die bescheidene Protestantin aus der Uckermark« (S. 17), »die vergleichsweise bescheiden entlohnte Kanzlerin« (S. 18) und eben nicht die sich an der Macht berauschende, neoliberale Zimtzicke, für die sie bisher von notorischen Querulanten gehalten wurde. Und alle, die die Botschaft jetzt noch immer nicht verstanden haben, bekommen auf Seite 19 noch mal Bescheid: »Angela Merkel hält es lieber mit protestantischer Bescheidenheit.« Auf Seite 20 folgen Schlag auf Schlag weitere unerhörte Enthüllungen über die sagenhafte Bescheidenheit von Mutter Angela, der Mutter Teresa der Deutschen: »Sie beschäftigt keine Luxusköche, sondern bereitet noch selbst Kartoffelsuppe zu.« »Statt Golf zu spielen, wandert sie mit ihrem Mann in den Bergen.«

Selten wurde bisher ein so tabuloser Blick hinter die Kulissen der Macht geworfen. Wer bisher dem furchtbaren Irrtum unterlag, Merkel sei vielmehr eine Charaktermaske, ein Maskottchen des Arbeitgeberverbands als eine Wagner-Opern hörende, in Askese lebende und bescheiden Kartoffelsuppe löffelnde Bergwandererin, wird von Bollmann eines Besseren belehrt. »Die angeblich so konturlose Kanzlerin mag zu den wenigen Politikern gehören, die sich ihre Persönlichkeit weitgehend bewahrten.« (S. 25)

Selbst im Urlaub ruht die unermüdliche Streiterin für das Gute in der Welt nicht, sondern trifft allein schon durch die Auswahl und farbliche Feinabstimmung ihrer Garderobe alle wichtigen Vorkehrungen für das Wohlergehen der freien Welt: Es »häufen sich die Bilder, die Merkel während des Sommerurlaubs in ihrem Berliner Dienstjäckchen zeigen, wobei sie aus den Edition-Suhrkamp-Farben ihres Kleiderschranks die helleren Töne wählt. Das ist ein subtiles Signal, dass die Kanzlerin auch von Südtirol aus weiter an der Rettung Europas arbeitet.« (S.20) Wir können uns entspannt zurücklehnen, die Rettung Europas ist nur noch eine Frage der Zeit. Und selbst wenn wider Erwarten alles im Chaos versinken sollte, braucht niemand zu verzagen: »Eine unübersichtliche Lage war stets Merkels größter Trumpf.« (S. 38)

Als die Bundeskanzlerin sich beispielsweise vor einigen Jahren zu einer Verlängerung der Laufzeiten deutscher Atomkraftwerke entschlossen hat, weiß Bollmann, »ging sie aufs Ganze, wie immer, wenn sie sich einmal entschieden hat« (S.70), und zwar genauso, wie sie vermutlich aufs Ganze ging, als sie sich einige Jahre später umentschied. »Ihre Furchtlosigkeit im Angesicht des Atoms war aber nicht nur vorgetäuscht. Hier kommt die Physikerin ins Spiel.« (S. 72)

Auch »bleibt es ein Meisterstück, wie sie die (…) Deutschen an die Politik der Euro-Rettung herangeführt hat (…) Merkel erwies sich einmal mehr als eine Art Deutschlandtherapeutin.« (S. 37)

Sie ist »eine Politikerin, die ihre Erfolge auf europäischem Parkett auch einem enormen physischen Durchhaltevermögen zu verdanken hat«. (S. 15) Seither stürmt sie weiter von Erfolg zu Erfolg bzw. von Triumph zu Triumph. Schon vor Jahren »konnte die Kanzlerin mit den Klima-Beschlüssen des G-8-Gipfels von Heiligendamm anderthalb Jahre nach ihrem Amtsantritt einen großen Erfolg auf internationalem Parkett feiern, aufbauend auf eigenen Erfahrungen, die sie als Umweltministerin auf Gipfeltreffen gesammelt hatte.« (S. 76) Eine vor Kraft und Energie strotzende Erfolgsfrau also, eine furchtlose Superwoman auf Speed gewissermaßen, aber dennoch auch gleichzeitig viel »eher die uckermärkische Hausfrau als die mächtigste Frau der Welt, eine Frau jedenfalls«, die sich auch nach dem Verlassen der diversen Parkette »ihre Bodenhaftung bewahrt hat« (S. 24). Ihre freie Zeit, die ihr nach ihrem furchtlosen Kampf für das Atom und nach der erfolgreichen Euro- und Klima-Rettung noch verbleibt, bringt sie damit zu, für die Deutschen zu sorgen: »Ihre hohen Sympathiewerte sind nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, dass sie den Deutschen alle Zumutungen vom Leib hält.« (S. 42) Bei so viel Erfolgen lacht sogar das Wetter. »Von draußen scheint die erste warme Frühlingssonne herein.« (S. 44)

Bollmann, der Superjournalist, hat auch manch bahnbrechende Äußerung Merkels aus ihrer Studentenzeit ausgegraben: »Fußball zu sehen hat mir immer Spaß gemacht.« (S. 15)

Doch wer tiefer eindringt in den Merkelschen Kosmos, erfährt auch, dass die bescheidene Asketin eine Nachtseite hat: Bei Hintergrundgesprächen mit Journalisten »kann sie selten den bereitgestellten Knabbereien widerstehen«. (S. 23)

»Die Deutschen haben in der Welt wieder ein Gesicht, es ist das von Angela Merkel.« Mit diesem Satz wirbt der Verlag für dieses Buch, das Monument eines kritischen Journalismus, wie es ihn heute viel zu selten gibt.

Da fallen einem unwillkürlich zwei Sätze von Wiglaf Droste ein: »Das Elend hat viele Gesichter. Wie gefällt ihnen meins?« Ralph Bollmann arbeitet im übrigen seit 2011 »als wirtschaftspolitischer Korrespondent der ›Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung‹«, die ja hinlänglich für ihren kritischen Journalismus bekannt ist. Personenkult oder liebedienerische Huldigungstexte kämen dort in der Redaktion niemandem in den Sinn.

Ralph Bollmann: Die Deutsche. Angela Merkel und wir. Klett-Cotta, 224 S., 17,95 €