Große Geschichte der kleinen Leute

Mario Desiati: »Zementfasern«

  • Uli Gellermann
  • Lesedauer: 3 Min.

Immer wieder gelingt es den Wagenbachs, in Italien Autoren zu finden, die ein poetisches Verhältnis zur Wirklichkeit haben: »Die Pest«, schreibt Mario Desiati in seinem Buch »Zementfasern«, sei »ein demokratisches und zuverlässiges Leiden, man teilt sie mit Verbündeten wie mit Feinden«. Das ist mit der Asbestose anders: »Sie hatte die Unglücklichen getroffen, die mit Asbest gearbeitet hatten, nicht aber ihre Arbeitgeber.« Diese undemokratische Form der Pest trug lange Jahre den Namen Eternit. Und natürlich waren es Gastarbeiter, die sich an den Maschinen mit dem grauen, flüssigen Material und den zerstörerischen Asbestfasern ihre Lungen infizierten.

Der Roman beginnt unter einem Bett: Mimi Orlando, das Mädchen aus Apulien, die wir bis auf die letzten Seiten des Romans begleiten werden, hat sich darunter versteckt. Die Eltern wollen aus der armen Heimat in die reiche Schweiz: Gutes Geld gäbe es dort, wenn sie mit »Ternitti« arbeiten würden, dem Zeugs, dass offiziell »Eternit« heißt.

Das Versteck unter dem Bett nützt dem Mädchen nichts. Sie muss mit in das doppelt kalte Land. Kalt, weil das Wetter nicht so schön ist wie in Apulien, und kalt, weil man zwar die italienischen Arbeiter braucht, aber die italienischen Menschen nicht will. Mimi wird ausgerechnet dort, im Massenquartier ihre erste Liebe finden: Im Dunkel der Nacht, nur von noch einem und noch einem Streichholz erhellt, tasten sie sich an das Lieben heran, erkennen sich in den Sekunden der brennten Hölzer. Zurück in Italien wird Mimi ihre Tochter ohne Vater erziehen - und auch sich selbst. In der Krawattenfabrik lernt sie ein wenig Solidarität und in der Abendschule all das, was sie in der Schweiz nicht hatte lernen können. Um sich herum hört sie die Eternit-Arbeiter husten, der Vater und seine Freunde sterben, einer nach dem anderen.

Kampf um die Entschädigung

In einer bildhaften Geschichte vom einfachen Leben, vom weiblichen Selbstbewusstsein und inmitten der Farbigkeit jener Bräuche, die Heimat ausmachen, wird Mimi den Kampf um die Entschädigung der kranken und sterbenden Asbestarbeiter aufnehmen und sie wird, mitten in einem Streik, ein furioses Ende ihres Lebensromans ansteuern, das ein glückliche Ende sein wird.

Mario Desiati gehört zu den selten gewordenen Autoren, die auch den weniger Gebildeten geistigen Reichtum zusprechen, die wissen, dass es so etwas wie Herzensbildung gibt und Solidarität, die wissen, dass die kleinen Leute große Geschichte machen können. Und Desiati bewegt zum Nachdenken: Die schweizerische Familie Schmidheiny, die mit dem Asbest reich geworden ist, die in vielen Ländern am Krebs-Verbrechen verdient hat, die mit dem südafrikanischen Apartheid-System kooperierte und den Diktator Somoza in Nicaragua unterstützte, hat straffrei überlebt. Dabei hat manch einer ihnen schon die Pest an den Hals gewünscht ...

Mario Desiati: Zementfasern. Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki. Verlag Klaus Wagenbach. 288 S., geb., 19,90 €.

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