Jelzins zweiter Streich

Wie Russlands erstes freigewähltes Parlament beseitigt wurde

  • Karl-Heinz Gräfe
  • Lesedauer: 3 Min.

Die Welt hielt den Atem an. Was ist da nur wieder in Moskau los. Fernsehbilder zeigten Rauch über dem Parlamentsgebäude in der russischen Hauptstadt.

Zwei Jahre zuvor, 1991, hatte Boris Jelzin, ehemaliger Erster Sekretär der KPdSU von Swerdlowsk - einen Putschversuch konservativer Kräfte nutzend - das Parlament aufgelöst und nebenbei Michael Gorbatschow, Generalsekretär der KPdSU, gestürzt. Da auch der neugewählte Oberste Sowjet sich seiner neoliberalen Privatisierungspolitik und marktwirtschaftlichen Schocktherapie angesichts der verheerenden sozialen Folgen widersetzte, entschied Jelzin, wie er im engsten Kreis äußerte: »Dieses Parlament wird es in Russland bald nicht mehr geben.«

Der von den USA und Westeuropa zum »Demokraten« hochgejubelte Autokrat löste per Ukas Nr. 1400 am 21. September das Parlament auf und ordnete Neuwahlen für den 12. Dezember 1993 an. Kurz darauf wurden die Kommunikationsnetze, die Wasser- und Stromversorgung zum Weißen Haus abgeschaltet. Das Parlamentsgebäude wurde von Spezialeinheiten des Sicherheitsministeriums (OMON) umstellt, von der Außenwelt abgeriegelt. Das Verfassungsgericht erklärte diesen Gewaltakt für null und nichtig. Parlamentspräsident Ruslan Chasbulatow ernannte Alexander Ruzkoi, einen populären Afghanistan-General, zum Präsidenten und berief für den 23. September eine außerordentliche Abgeordnetensitzung ein. Im ganzen Lande brodelte die Empörung über Jelzins Anschlag auf die Volksvertretung. Am Sonntag, dem 3. Oktober 1993, durchbrachen Tausende Moskauer Demonstranten den militärischen Blockadering. Als sie von OMON-Truppen beschossen wurden, stürmten sie todesmutig deren Stützpunkte: das Bürgermeisteramt und das Hotel »Mir«.

Jelzins Presseminister Michael Poltoranin, einst Chefredakteur der »Prawda«, schwor die Vertreter der zentralen und regionalen Medien auf eine konzertierte Kampagne gegen das Parlament und dessen Verteidiger ein. Daraufhin entschied der amtierende Präsident Ruzkoi, das Zentrum antiparlamentarischen Hetze, das Fernsehzentrum Ostankino, zu besetzen. Doch hier warteten bereits ebenfalls Spezialeinheiten des Sicherheitsministeriums. Sie richteten ein Blutbad unter den 4000 anmarschierenden Demonstranten an. Jelzin rief den Ausnahmezustand aus und befahl in den frühen Morgenstunden des 4. Oktober, den politischen Widerstand militärisch zu brechen. Da weder Miliz noch Sicherheitskräfte dazu fähig waren, übernahm Verteidigungsminister Pawel Gratschow mit ausgewählten Armeeformationen den Sturm auf das Weiße Haus. Seit 9.30 Uhr beschossen Panzer das Parlament und setzten es in Brand. Die zwölf befehlenden Offiziere der angreifenden Truppen erhielten für diesen Coup ein Handgeld von fünf Millionen Rubel, jeder Soldat der beteiligten Motschützen- und Luftlandeeinheiten wurde mit 100 000 bis 250 000 Rubel belohnt. Gegen 18 Uhr ergeben sich die Parlamentarier der Übermacht. Ihre Führer wurden inhaftiert und als Landesverräter abgeurteilt.

Jelzins Putsch kostete über tausend Menschenleben. Er beeinflusste wesentlich Verlauf und Ergebnis des Referendums über die neue Verfassung sowie die Wahlen zur Staatsduma, wie nunmehr das neue Parlament gemäß Jelzins Wunsch heißen sollte. An beiden Abstimmungen nahmen nur 53,7 Millionen der 106,2 Millionen wahlberechtigten Bürger Russlands teil. Unzweifelhaft wurden die Wahlen durch Jelzins Getreue manipuliert. Seine Partei kam dennoch nur auf 15 Prozent der Stimmen, die Kommunisten auf zwölf und die Rechtspopulisten Shirinowskis auf 22 Prozent.

Vor zwanzig Jahren bejubelten deutsche Politiker und Medien, von der »FAZ« bis zur »taz«, Jelzins Staatsstreich als endgültigen Sieg des Demokratie über den noch nicht vollständig überwundenen Sowjetkommunismus. Der Demokrat Jelzin habe einen »faschistisch-kommunistischen Putsch« des Kongresses der Volksdeputierten niedergeschlagen.

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