Wie die Sowjetmenschen damals dachten und lebten

Andrej Kurkow gelang ein Roman-»Flickwerk« im besten Sinne des Wortes

  • Karlheinz Kasper
  • Lesedauer: 4 Min.

Nach dem Roman »Der wahrhaftige Volkskontrolleur«, den Kerstin Monschein 2011 ins Deutsche übertrug, brachte der Haymon Verlag jetzt die Fortsetzung: »Der unbeugsame Papagei« erschien in der Übersetzung von Sabine Grebing, die mit dem Werk und dem ironischen, zum Absurden und Phantastischen tendierenden Stil Kurkows seit längerem vertraut ist. Ein dritter Teil unter dem Titel »Die Kugel fand den Helden« ist noch zu erwarten.

Die Trilogie hat keine Zentralgestalt, sondern verfolgt scheibchenweise das Schicksal mehrerer Protagonisten. Sie tauchen in allen drei Romanen auf: der Volkskontrolleur Pawel Dobrynin, der »auf Lebenszeit für die ganze Sowjetunion« als Gütekontrolleur eingesetzt wird, der Varietékünstler Mark Iwanow und sein Papagei Kusma, der die Gedichte Majakowskis und anderer Sowjetpoeten mitreißend rezitiert, der Engel, der erkunden will, warum kein Sowjetbürger ins Paradies kommt, und sich im irdischen »Neuen Gelobten Land« verirrt, der Schuldirektor Wassili Banow, der Lenin unter dem Moskauer Kreml Gesellschaft leistet. Und dann gibt es noch eine Kugel, die den Engel treffen soll, der sie allerdings abfängt und dann losschickt, um jedes Töten ein für allemal zu beenden.

Andrej Kurkow:

Der unbeugsame Papagei. Roman. A. d. Russ. v. Sabine Grebing. Haymon Verlag.
431 S., geb., 22,90 €.

Das Ganze ist ein epischer Patchworktext, »Flickwerk« im besten Sinne des Wortes, gestaltet indes mit einer klaren ästhetischen Zielstellung. Im Prolog zum »Unbeugsamen Papagei« stellt der Autor die Hauptakteure vor und erklärt, er habe dieses Buch geschrieben, »um aufzuzeigen, wie all die echten Sowjetmenschen damals dachten und lebten«. Heute gebe es zwar keine Sowjetmenschen mehr, aber er habe sie noch angetroffen und liebe sie: »Ich möchte gern, dass auch Sie sie verstehen und, wenn möglich, lieb gewinnen. Und wenn Sie sie nicht lieb gewinnen können, aber wenigstens verstehen, dann bin ich auch damit zufrieden!«

Aus diesen Worten, ob man sie nun als ironisches Statement oder als aufrichtiges Bekenntnis liest, geht hervor, dass Kurkow sich nicht mehr und nicht weniger vorgenommen hat, als ein Kollektivporträt des Menschen zu zeichnen, der im Russischen seit der Perestroika abwertend mit dem Jargonbegriff sowók (Sowjetbürger, Vertreter der sowjetischen Mentalität und Lebensweise) bezeichnet wird.

Im »Wahrhaftigen Volkskontrolleur« entsteht durch vielerlei Details - die häufige Erwähnung der Kollektivierung der Landwirtschaft und ihrer Folgen, Kusmas Zitate aus patriotischen Gedichten und Liedern der 1920/30er Jahre - ein Zeitkolorit. Man nimmt an, dass die Handlung ganz allgemein »nach der Revolution« spielt. Der zweite Roman erfasst in den Grundkonturen die Jahre des Großen Vaterländischen Krieges.

Der ehrliche, aber naive Kolchosbauer Pawel Dobrynin, den seine Dorfgenossen, um ihn loszuwerden, als Landesgütekontrolleur vorschlagen, überprüft gemeinsam mit dem »letzten Urku-Jemzen« Dmitri die Fellproduktion im Hohen Norden, entdeckt den volkswirtschaftlichen Nutzen vor Millionen Jahren eingefrorenen Mammutfleischs, kümmert sich um die Herstellung von Gasmasken, Militärmänteln sowie aufblasbaren Gummipuppen für die politische Propaganda und erbaut sich in der kargen Freizeit immer wieder an rührenden Geschichten aus dem Buch »Lenin für Kinder«.

Der Papagei Kusma rezitiert jetzt vor Soldaten und Arbeitern kriegswichtiger Betriebe häufig aus Twardowskis Poem vom Soldaten Wassili Tjorkin und anderen Texten der Frontlyrik. Im »Neuen Gelobten Land« wird gesät und geerntet, kommen Kinder zur Welt. Der aus dem Paradies entwichene Engel liebt die Lehrerin Katja, die ihn jedoch nur erhören will, wenn er die Existenz Gottes leugnet. Schuldirektor Banow, von den Direktiven des Volksbildungsministeriums und Makarenkos »Pädagogischem Poem« genervt, findet Zuflucht bei dem Träumer Lenin, der unter dem Kreml in einer ärmlichen Laubhütte haust und ebenso machtlos ist wie das im Obergeschoss dahinsiechende formelle Staatsoberhaupt Kalinin. Die mysteriöse Kugel aber fliegt unaufhörlich weiter, ohne ein Ziel zu finden.

1961 in der Nähe von Leningrad geboren, lebt Kurkow seit seiner Kindheit in Kiew und gilt heute als russischsprachiger ukrainischer Schriftsteller. Er hat seit 1991 über zwanzig Romane und ebenso viele Filmdrehbücher veröffentlicht und in zahlreichen Ländern erstaunlich viel Resonanz gefunden. Seine Trilogie über den Volkskontrolleur Dobrynin, den sprechenden Papagei Kusma und die anderen nimmt in der russisch-ukrainischen Literatur über die Sowjetvergangenheit eine Sonderstellung ein.

Kurkow gießt über den sowók weder Hohn und Spott aus noch zeichnet er ihn nostalgisch verklärt. Seine teilweise surrealistisch anmutende Erzählweise ist eher von leiser Wehmut geprägt, von Mitleid mit der ideologisch verkrüppelten Generation der Väter.

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