Aber der Zweifel ...

Francesca Segal und eine jüdische Familie

  • Lilian-Astrid Geese
  • Lesedauer: 3 Min.

»Als Dan London erstmals seine Freundin Willa zu den Gilberts zum Sabbatmahl mitbrachte, bekundete Willa ihren Wunsch, zum Judentum zu konvertieren, und fragte, was sie dafür alles lernen müsse. Lawrence scherzte: ›Ach, da ist wirklich nicht viel dabei. Im Prinzip lässt sich jeder jüdische Feiertag so erklären: Man hat versucht, uns umzubringen. Vergeblich. Lasst uns essen.‹«

Klischee? Übertreibung? Nebbich! Genau so ist es oder kann es sein, wie es Francesca Segal in ihrem Roman »Die Arglosen« - im englischen Originaltitel treffender »The Innocents« - beschreibt. Die 1980 in London geborene Journalistin und Kritikerin wird mit Autorinnen wie Zadie Smith und Monica Ali verglichen. Nicht ganz zu Unrecht, denn ihr Roman ist eine sympathisch geschriebene Geschichte, die in der modernen jüdischen Gesellschaft Nordwestlondons spielt und natürlich nicht ohne eine moderne Version des alten Anatevka-Themas »Tradition!« auskommt.

Francesca Segal:


Die Arglosen. Roman. 
A. d. Engl. v. Verena 
Kilchling. Kein & Aber.
432 S., geb., 22,90 €.

Es geht um Liebe und Leidenschaft, um den zaghaften Weg eines jungen Paares ins Erwachsenenleben, und um die Erkenntnis, dass es in diesem weitaus Verführerisches gibt, als man in unschuldiger Jugend so denkt.

Adam ist glücklich. Er wird seine erste Liebe Rachel heiraten. Schon bald, wenn es nach ihm geht, schließlich sind sie schon seit zwölf Jahren zusammen: »Sie waren seit ihrem sechzehnten Lebensjahr ein Paar, und jetzt war sie seit einer Woche seine Verlobte. Alles fühlte sich plötzlich ganz anders an ... Es war mehr als ein Gefühl von Besitz, von Verbundenheit, von Liebe. Was sich zwischen ihnen eingestellt hatte, war vollkommenes Vertrauen, war Gewissheit und die Aussicht darauf, dass diese Gewissheit für immer andauern würde.«

Doch Rachel und ihre Mutter Jaffa bestehen auf einem rauschenden Hochzeitsfest, und das zu planen braucht Zeit. Adam, ohnehin mehr Phlegmatiker als Passionierter, fügt sich. Doch dann tritt Rachels Cousine Ellie auf den Plan und schickt nicht nur ihn auf eine emotionale Achterbahnfahrt.

Nach einer tragisch-turbulenten Kindheit - ihr Vater Boaz zog unstetig durch die Lande, die Mutter Jackie kommt bei einem Terroranschlag in Jerusalem ums Leben - lebte Ellie viele Jahre mehr oder weniger glücklich als Künstlerin, Muse und Geliebte des reichen aber dubiosen Marshall Bruce in New York, bis sie auf der Flucht aus der Bohème in die englische Provinz und zu ihrer wunderbaren Großmutter Ziva zurückkehrt. Ob für immer, das weiß niemand, am wenigsten sie selbst. In jedem Fall steht sie für eine andere Welt als ihre bourgeois-bodenständige Mischpoke. Ellie erfuhr Dramen und Glück, Trauer und Schmerz, und ist der KZ-Überlebenden Israelin Ziva auch deshalb nah.

Es ist eine große Familie in drei Generationen, von der Francesca Segal erzählt, von vielen Freunden, entfernten Verwandten, von Ehrlichkeit und Intrigen, von Mut und Verzweiflung. Sie blättert ein Patchwork individueller Schicksale auf, in dem bestenfalls an Pessach eine fragile Ruhe einkehrt.

Doch hier werden weder das Ende der Love Story verraten noch die verwobenen Fäden entwirrt. So kompliziert ist das Ganze letztlich auch nicht. Schließlich dreht es sich um etwas, das jedem von uns geschehen kann: Du denkst, alles sei geregelt und es gäbe nur noch einen Weg in die Zukunft, und stellst plötzlich fest, es könnte auch ein anderer sein. Wo die Liebe hinfällt eben.

Die Harvard- und Oxford-Absolventin Francesca Segal hat für »Die Arglosen« unter anderem den National Jewish Book Award bekommen. Nicht zuletzt die feine Ironie in den liebevollen Beschreibungen ihrer Charaktere macht ihr spritziges Debüt zu einer vergnüglichen Lektüre.

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